Die Hüterin des Evangeliums
sie den hübschen Buben vor sich, der rechtschaffen, willig und ordentlich gewesen war und eines Tages bestimmt ein guter Schriftsetzer geworden wäre. Nicht sie war schuld, dachte sie bitter, sondern Severin, der sie alle ins Chaos gestürzt hatte. Oder Titus, der die Hand gegen seinen Sohn erhoben hatte ...
»Ich kann doch nichts dafür«, rechtfertigte sie sich leise. »Einem Witwenfortbetrieb ist die Ausbildung untersagt, ja,aber das ist doch kein Grund, ins Wasser zu gehen. Anton hätte gewiss anderswo eine gute Lehrstelle gefunden ...«
»Ihr glaubt, er hätte sich freiwillig in den Fluss gestürzt? Großer Gott, nein. Der Junge hat sich nicht versündigt. Er wurde erdrosselt und dann ins Wasser geworfen. Ein Baumwollweber vom Senkelbach hat den Leichnam aus seinem Mühlwerk nahe der Wertach-Mündung gezogen.«
Die Knie wurden ihr weich. Christiane bedauerte, sich nicht gesetzt zu haben. Ein Schwindel erfasste sie, die Zimmerwände drehten sich. Haltsuchend umklammerte sie mit beiden Händen Marthas knöchrige Schultern.
»Christiane«, flüsterte Martha, »er hat recht. Wir müssen die Wahrheit sagen.«
Ihre Cousine achtete nicht darauf. »Wo ... wo ...«, stammelte sie, »ist Anton jetzt?«
»Die Leute haben ihn in seinem Elternhaus aufgebahrt.«
»Wieso wisst Ihr davon?«, erkundigte sich Martha.
Wie immer bediente er sich eines sanfteren, geduldigeren Tonfalls, wenn er mit Martha sprach: »Mein Freund Ditmold weilte gerade im Palast von Anton Fugger, als ein Bote des Rats zum Reichserbmarschall kam. So konnte sich Bernhard rasch ein Bild von der Sache machen – und ich auch. Leider ... Es ist meine Sache nicht, den geschundenen und aufgedunsenen Leib eines blutjungen Mannes zu betrachten.«
Christiane nickte geistesabwesend. »Wo ist der Schwäher?«, wollte sie scheinbar zusammenhanglos wissen.
»Wahrscheinlich hat das Unwetter ihn von der Heimkehr abgehalten«, erwiderte Martha, welche die schreckliche Nachricht offenbar besser verkraftete als Christiane. Sicher machte ihr der Tod des Lehrlings weniger aus als Meitingers Witib, die Anton besser gekannt hatte. Außerdem mochte Martha nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ahnen, wen Christiane der grausamen Tat verdächtigte.
Verfügte der alte Mann über genügend Kräfte, einen gesunden, halbwüchsigen Knaben an der Schwelle zum Erwachsensein zu erwürgen und dann in einen Fluss zu werfen? Wenn Anton respektvoll genug gegen den Vater seines Lehrherrn gewesen wäre, sich nicht zu wehren, allemal, sinnierte Christiane. Es war wie bei Severin. Titus war durch seine Jahre und seine Stellung in Haushalt und Werkstatt zweifellos im Vorteil gegenüber seinen jüngeren Opfern.
»Der alte Meitinger wird noch früh genug von der Sache erfahren«, behauptete Delius. »Morgen werden es sicher die Spatzen von den Dächern pfeifen. Die Leute sind begierig auf Sensationen, zumal es über den Reichstag wenig Neues zu berichten gibt ... Und da wir gerade über Informationen reden, Frau Meitinger«, seine Stimme gewann wieder an Schärfe: »Es ist Zeit, dass Ihr mir offenbart, was Ihr zu dieser ganzen schrecklichen Geschichte zu sagen habt.«
Christianes Fingernägel gruben sich in den Stoff von Marthas Kleid. »Ich wüsste nicht, was ich dazu beitragen sollte«, wehrte sie den Angriff ab.
Sie musste Zeit gewinnen, um ihre weitere Handlungsweise zu überdenken. Noch war sie nicht bereit, Titus auszuliefern. Es stand ja nicht einmal ansatzweise fest, dass er etwas mit dem Mord an Anton zu tun haben könnte. Vielleicht war der Junge auch einem Streit zum Opfer gefallen, in einem Wirtshaus etwa, wo er sich betrank, weil er seine Lehrstelle verloren hatte. Warum aber war Wolfgang Delius dann hier eingedrungen? Wieso verlangte er Auskunft von ihr? Erneut griff die Schuld mit eiskalter Hand nach Christiane und verursachte ihr Höllenqualen.
»Ihr wisst etwas, das Ihr Ditmold und mir verschweigt. Es ist wichtig, davon bin ich überzeugt. Vielleicht führt es uns zum Mörder. Vielleicht hätte es die neue Tat verhindert. Wer kann das schon genau sagen? Ich will aber verdammt sein,wenn ich nicht wenigstens versuche, den Mörder dingfest zu machen, bevor ein vierter Mann sein Leben verliert ...«
»Vierter?«, wiederholten Christiane und Martha wie aus einem Munde.
Beide hoben nach einem Moment der Verwunderung fast gleichzeitig wieder zu sprechen an.
Christianes Worte kamen einem Aufschrei gleich. »Wer ist denn noch umgebracht worden?«
»Ist dem alten Titus
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