Die Hure Babylon
aufrecht auf dem Stuhl, machte überhaupt einen rüstigen Eindruck für einen Mann über siebzig. Vielleicht weil er ein Pferdenarr war und immer noch gern die jungen Gäule zuritt, obwohl sein Weib ihm täglich zusetzte, es doch endlich den Knechten zu überlassen. Lieber im Sattel sterben als im Bett, war die immergleiche unbekümmerte Antwort, seit Arnaut sich erinnern konnte.
»Und wie denkst du über den Aufruf des Papstes?«
Hamid blickte lange auf seine knochigen Hände. Dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Ich höre das Gerede. Und es macht mich traurig.« Er sah auf und heftete den Blick auf Arnaut. »Weißt du, vor hundert Jahren gab es bei uns diesen Dichter, Al-Ma’arri hieß er. War sehr berühmt. Hielt nichts von Propheten, weder von Jesus noch von Mohammed. Alles Erfindung, was sie so behaupten, hat er gesagt. Den Menschen sei es gutgegangen, bis diese verdammten Propheten kamen und das Leben verpfuschten.« Er fuhr sich mit der Hand durch die krausen Haare. »Natürlich waren nur wenige mit ihm einverstanden, aber ich denke genau wie er. Und so einen wie deinen Papst mit seinem Aufruf, den zähle ich auch zu diesen falschen Propheten. Es lohnt nicht, für nutzlose Ammenmärchen zu sterben. Denk mal darüber nach, mein Junge.«
»Ammenmärchen? Wie kannst du so etwas sagen?«
»Die Religion vernebelt den Verstand und verhindert das Denken.«
Der alte Hamid bekannte sich zwar zum Islam, aber mehr aus Gewohnheit als aus Gläubigkeit, wie alle wussten. In seiner Jugend hatte er die Schriften der Griechen studiert und war ein Verfechter der reinen Vernunft geworden. Und die Erfahrungen eines langen Lebens hatten ihn darin bestärkt.
»Um bei Al-Ma’arri zu bleiben«, fuhr er fort, »nach ihm gäbe es zwei Arten von Menschen, weißt du. Die einen hätten Verstand, aber keine Religion. Den Übrigen sei Religion gegeben, dafür aber wenig Hirn. So jedenfalls drückte er sich aus. Und es sei das Unglück dieser Welt, dass die Hirnlosen in der Überzahl seien. Vielleicht solltest du auch darüber nachdenken.«
»Aber selbst ihr Sarazenen habt eure Religion.«
»Leider«, brummte Hamid.
»Und du und Großvater, ihr habt euer Leben aufs Spiel gesetzt, um Jerusalem zu befreien.«
»Eine Dummheit, wie ich heute weiß. Und ich glaube, selbst dein Großvater wird mir darin nicht widersprechen.«
Wegen einer verbotenen Liebe war Hamid, ursprünglich aus Damaskus, vor vielen Jahren als Ehebrecher aus der Gemeinschaft der Muslime ausgestoßen und als gebrandmarkter Galeerensklave verkauft worden. Er war geflohen und hatte dadurch sein Leben verwirkt, wenn man ihn gefasst hätte. Da hatte er Jaufré getroffen und war dem Christenheer beigetreten. Viele Jahre lang hatten sie gemeinsam gekämpft und waren darüber Freunde geworden. Zuletzt war er Jaufré bis ins Land der Franken gefolgt, der
franj,
wie er sie mit einem leicht spöttischen Unterton nannte, denn für ihn waren sie immer noch so etwas wie Barbaren.
»Schluss jetzt mit diesem gottlosen Gerede, Hamid«, fauchte Cortesa, die aus ihrer inneren Einkehr erwacht war. Ihre Augen waren gerötet. »Da drin liegt dein bester Freund, vielleicht sogar im Sterben. Hast du keine Ehrfurcht vor seinem letzten Gang?«
Hamid nickte und lächelte traurig. »Verzeih mir, Cortesa. Du hast ja recht. Es ging mir auch eher um die Lebenden.«
Cortesa seufzte und ließ die Schultern hängen. »Wir wissen, wie du die Dinge siehst. Aber das macht es nicht erträglicher. Ich wünschte, du würdest den Kindern nicht solche ketzerischen Flausen in den Kopf setzen.«
»Sie sollen lernen, den Verstand zu gebrauchen, und nicht wie Lämmer hinter Eseln herlaufen, nur weil die am lautesten schreien.«
Cortesa gab es auf, ihm zu widersprechen. Doch nun herrschte wieder betretene Stille.
Wie kann ein Mensch ohne Religion leben, fragte sich Arnaut nicht zum ersten Mal. Die Leute von Rocafort waren nicht kirchenhörig, doch das tägliche Gebet war ihm so natürlich wie das Atmen. Auch wenn man nicht viel darüber nachdachte, Christus war allgegenwärtig. Arnaut schielte zu Hamid hinüber, aber der hielt den Blick auf die Hände in seinem Schoß gesenkt und schien entschlossen, sich bei Cortesa nicht weiter in die Nesseln zu setzen.
Da trat
Domna
Adela in den Raum.
Obwohl schon Ende vierzig und mit tausend Silberfäden im Haar, war sie immer noch eine schöne Frau. Das Bangen um ihren Vater während der letzten Tage hatte ihr jedoch dunkle Schatten unter die Augen gelegt,
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