Die Hure Babylon
seinem Gott zu reden?«, fragte Henri die Menge. »Ist Gott nicht allmächtig? Versteht er nicht jede Sprache, auch die des einfachen Mannes? Wozu dann aber Kirchen und Paläste wie dieses herrliche Haus des Erzbischofs, vor dem wir stehen? Gewaltige Ländereien besitzt der Mann, Burgen und Klöster. Seine Truhen bersten vor Gold. Doch in den Straßen sieht es anders aus. Da verrecken die Armen, erfrieren Bettler in der Winterkälte, und es weinen Mütter, weil sie für ihre Kinder nichts zu essen haben. Ein Hirte will der Mann sein? Ich frage euch, braucht ihr einen solchen Hirten? Wem nützt er außer sich selbst?«
Die Leute sahen sich an und murrten untereinander. Eine junge Frau neben mir, ärmlich gekleidet und mit drei kleinen Kindern am Rock, nickte heftig. »Eine Schande ist das«, ließ sie lautstark vernehmen. Andere stimmten zu.
»Nein, Gott hört uns auch ohne Kirchen, wenn wir zu ihm beten«, rief Henri. »Er braucht keinen Mittler, Er hört uns überall, auf dem Feld oder in der Werkstatt. Und es muss auch nicht auf Lateinisch sein. Er freut sich über jeden, der aus freien Stücken und aus tiefem Glauben zu Ihm kommt. Der Ihm sein Herz öffnet.«
Er hielt einen Augenblick inne, um die Worte wirken zu lassen.
»Aus freien Stücken«, wiederholte er dann. »Denn was nutzt Ihm einer, der gezwungen wurde, Christ zu sein? Den die Eltern zum Christen bestimmt haben, als sie ihn taufen ließen. Ist der aus freien Stücken gekommen? Was weiß ein Säugling schon von Christus? Und warum sollte ein Kind in der Hölle schmoren, nur weil es zufällig vor der Taufe verstorben ist? Wird unser lieber Heiland es wirklich in die Hölle schicken? Natürlich nicht, denn Christus liebt besonders die Kinder in ihrer Unschuld. Er selbst aber ließ sich erst als Erwachsener taufen, als er wusste, was das bedeutet. Und so, meine Brüder und Schwestern, sollen auch wir es halten.«
Predigte der Mann etwa die Abschaffung der Kindstaufe, der Kirchen und des Priestertums? Selbst ich war erschrocken. Das ging zu weit. Und doch ließen seine Worte mich nicht unberührt.
»Aus diesem Grund ist es ebenso unsinnig, die Heiden mit dem Schwert bekehren zu wollen«, fuhr er fort. »Wollen wir erzwungene Christen, die nur aus Furcht den seidenen Saum des Kirchenfürsten küssen? Das kann nicht im Sinne Gottes sein. Nein, sage ich. Statt sie zu töten, sollten wir sie christlicher Liebe teilhaftig werden lassen, damit sie die Glorie des Herrn in sich selbst verspüren. Aber was tun wir? Wir schicken Krieger in ihr Land, um ihre Städte und Dörfer zu verheeren. Das soll gottgefällig sein? Werden sie so etwa zum Glauben bekehrt? Was hat das noch mit der Botschaft der Nächstenliebe zu tun, die Jesus von Nazareth uns gesandt hat?«
Henri hatte sich mächtig in Eifer geredet und die letzten Worte fast gebrüllt.
Mon Dieu.
Das war eine ganz andere Predigt als die des Abtes Clairvaux. Viele in der Menge hatten Väter, Söhne oder Brüder in der
militia christi.
Und sie sorgten sich um sie. Nach mehr als sechs Monaten ohne Kunde von ihren Lieben war die Begeisterung für diese Pilgerfahrt des Papstes umgeschlagen, wie Brot, das verschimmelt, oder Wein, der zu Essig wird. Die Männer fehlten überall, wo sie gebraucht wurden. Frauen mussten allein für ihre Familien kämpfen und verfluchten den Tag, an dem ihre Kerle mit den Soldaten gezogen waren. Wie ich auch.
Aber nicht allen, die auf dem Marktplatz standen, gefiel, was Henri sagte. Sie versuchten, ihn mit Pfiffen und Gebrüll zu übertönen. Einer bewarf ihn mit Pferdekot, der ihn an der Schulter traf. Es kam zu Rempeleien und Handgreiflichkeiten. Ich bekam Angst, wollte nicht in eine Rauferei verwickelt werden und begann, mich langsam zurückzuziehen.
Der Prediger ließ sich nicht entmutigen. Sein Gesicht war rot vor Zorn, die Adern auf seiner Stirn traten hervor. »Aber im Grunde geht es doch gar nicht um die Botschaft Jesu. Denn Rom genügt schon lange nicht mehr, was es besitzt. In Outremer, in Spanien, überall sollen Ungläubige vernichtet und ihr Land geraubt werden. Und Rom bedient sich der Prinzen und Könige, um seine Gier nach Herrschaft in fremde Welten zu tragen. Aber gebt acht, ihr guten Leute, denn alles, was in diesen Tagen geschieht, ist schon in der Bibel offenbart.«
Einen Augenblick herrschte Stille. In der Bibel?
»Ja, in der Bibel«, schrie Henri. »Aber das ist die Stelle, die sie euch verschweigen. Denn dort steht geschrieben von der großen Hure Babylon,
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