Die Hure: Roman (German Edition)
rumpeln. Nun zischt sie. Der Mann will gehen, doch siehe: Aus der Presse flutet entsetzliches, helles Licht, das ihm für den Rest seines Lebens die Sehkraft raubt.
Der erblindete Mann schweigt über den Unfall, und niemandem fällt die Veränderung auf. Die neue Putzfrau tilgt die Spuren des Ereignisses, und die Müllabfuhr bringt den Inhalt der Presse auf die Halde. Die Arbeit im Büro geht weiter wie bisher.
Etwas passiert allerdings.
Schon in der ersten Nacht erscheint an der Tür zum Bürogebäude ein Graffiti. Das sorgfältig gemalte Bild zeigt eine sehr schöne nackte Frau, deren Körper grausam gefoltert wurde. Um den Kopf der Frau ist ein goldener Strahlenkranz gemalt. Für den Körper wurde schwarze, weiße und rote Farbe verwendet. Die Frau auf dem Bild hebt eine Hand, deren Handfläche durchbohrt ist. Ihre Lippen sind zusammengeheftet, die Schamlippen ebenfalls. In der anderen Hand hält sie eine Sprühflasche.
Das Bild wird gleich am Morgen entfernt, aber irgendwer malt es in der folgenden Nacht erneut hin. Auch das wird entfernt, doch über Nacht erscheint es wieder. Die weggewaschenen Bilder werden immer wieder gemalt und dann entfernt, sodass die Wände des Bürohauses von den Reinigungsmitteln immer poröser werden.
Vom Bürogebäude aus verbreiten sich die Graffitis in der ganzen Stadt wie eine Pandemie. Als die Einwohner eines Morgens erwachen und zur Arbeit oder zur Schule gehen, stellen sie fest, dass jemand eine riesige Frau mit Strahlenkranz an die Wand des Einkaufszentrums gemalt hat. An die Stelle, wo sonst meist die Reklame einer Modekette hängt. Man will das Bild sofort entfernen, aber keiner weiß, wer für die Kosten aufzukommen hat.
So bleibt das Bild vorläufig, wo es ist, obwohl es sich für Kinderaugen nicht schickt. Die Modekette wittert ihre Chance und schlägt vor, die große Frau mit Kleidern aus ihrer Kollektion zu bemalen. Zuerst erhält sie nur Unterwäsche. Dann werden allmählich Accessoires und Kleidungsstücke hinzugefügt, bis die Frau auf dem Gemälde schließlich goldene Leggings und eine türkis-rosa gemusterte Tunika trägt. Erbost über diesen Eingriff stellt sich im Dunkel der Nacht der Künstler ein, entkleidet sein Modell und malt ihm blutende Wunden. Die Modekette begnügt sich damit, die Frau mit Dessous auszustatten und sich bei deren Auswahl um extremen Minimalismus zu bemühen. Und bald weiß niemand mehr, weshalb das Bild entfernt werden sollte.
Die gemalte Frau wird Heilige Miracle getauft, nach der Marke des Putzmittels in ihrer Hand.
Ich heiße Maria. Ihr glaubt vielleicht, mich zu kennen. Aber was wisst ihr denn von mir? Ihr wisst, wessen Mutter ich bin. Und wer mein Mann war. Wie würde es einen Mann ankotzen, wenn er in einem relativ populären Werk vorkäme und die Leute trotzdem nur seine Frau und sein Kind kennen würden.
Ich erzähle jetzt einmal von mir.
Ich wurde in eine jüdische Familie geboren. Zur Schule durfte ich nicht. Als Kind lernte ich, irrsinnig leckeres Brot zu backen und nach Jasmin duftendes Haaröl herzustellen.
Als ich meine erste Menstruation bekam, bin ich zu einem Mann gezogen.
Mit zwölf wurde ich vergewaltigt. Das heißt, der Täter betrachtete es nicht als Vergewaltigung, und damals gab es den Begriff noch gar nicht. Ich wurde schwanger und habe ein Kind geboren. Mein Mann wollte ein eheliches Leben führen, aber da war irgendetwas, weswegen ich keine weiteren Kinder mehr gekriegt habe. Das war gut so, denn mein Erstgeborener hatte eine wahnsinnig rege Fantasie und bereitete mir große Sorgen. Aber er war ziemlich selbstständig, so blieb mir Zeit, mich weiterzuentwickeln.
Mit zwanzig habe ich mich in einen Typen verknallt, wir hatten fast ein Jahr lang ein Verhältnis. Aber dann ist er an Lepra erkrankt und schließlich gestorben. Ich habe ziemlich um ihn getrauert.
Um diese Zeit bekamen wir einen Maulesel. Der war lieb, ich nannte ihn Isaak und lernte reiten. Es war herrlich. Aber Josef musste ihn bald wieder verkaufen. Wir hatten finanzielle Probleme und mussten in eine kleinere Wohnung ziehen.
In der Pubertät war mein Sohn wirklich schwierig, aber längst nicht so schwierig wie als Erwachsener. Ich hatte kaum Kraft für irgendwas anderes. Mir blieb ein bisschen Zeit, um die Kabbala zu studieren, aber irgendwie hat sie mich nie ganz überzeugt.
Männer interessierten mich nicht mehr, nachdem mir wegen einer Entzündung die Gebärmutter entfernt worden war.
Als mein Sohn hingerichtet wurde, lernte ich
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