Die Hure und der Henker
die
Stadt.«
»Also wer
immer der Spitzbube war«, sagte er, »im Osten der Stadt hat er angefangen.«
»Das, Klein«, sagte Kober freudig und zeigte mit dem Messer,
mit dem er gerade einen Pfirsich halbiert hatte, auf Valentin, »ist ein
hervorragender Gedanke. Das werde ich bei passender Gelegenheit sagen!«
Ulla, die Magd, brachte den
Säugling herein.
Verliebt man
sich in männliche Beobachtungsgabe? In weibliche Fürsorglichkeit, die ein
wollenes Mützchen abnimmt? »Ach, du schwitzt ja, mein Kleiner! Dir ist ja so warm!
Komm, und das Jäckchen ziehen wir auch aus.« Die das Kind anlächelt, das mit
den Ärmchen fuchtelt, das strampelt und kräht. »Na, du kleines Untier, du. Da
staunst du, was? Und wer sind die hier alle? Guck mal, der Papa! Onkel
Valentin! Oma Elsbeth…« Elsbeth, die ja nicht verwandt mit Judith war, aber nun
trotzdem Oma sein durfte, faltete ihr Gesicht in tausend winzige Fältchen.
Verliebt man
sich in die männliche Tatkraft, die zusammen mit Ulla im Hof einen Handwagen
mit Kürbissen, Äpfeln und Asternsträußen belädt? Denn Valentin hatte die
Aufgabe übernommen, mit seinen Schülern den Altar zum Erntedankfest zu
schmücken.
Es wurde
Herbst. Es wurde Winter. Im Herbst hatte Valentin einen Nachmittag mit seiner
Ziehmutter Vyfken im Hainholz erwähnt, blühendes Heidekraut, viele Pilze. Und
einen strengen Winter prophezeit, denn die Eichelhäher rotteten sich zusammen
und machten auf schwache Singvögel Jagd.
Er sollte
recht behalten mit Strenge und Winter.
An einem der
Sonntage, da in der Liturgie das »Ehre sei Gott in der Höhe« weggefallen und
der Altar mit einer lila Decke bedeckt war, denn es war wieder Advent, sah er,
nachdem er sich von Vyfken verabschiedet hatte, die er jeden Sonntag besuchte,
ein paar Enten. Er stand in der Gasse Achter der Mauer. Die Enten schwammen in
den Löchern, die die Gerber ins Eis gehackt hatten.
Ihm fiel die
Ente vom Vorjahr ein, eine andere Ente auf einem anderen Eis: auf dem Oberteich
vorm Wittstocker Tor. Sie hatten, Heinisch und er, den ganzen Nachmittag
theologische Schriften zu systematisieren versucht und Heinisch hatte sich
plötzlich ins Freie gewünscht. Ob er Lust habe, mit ihm zu spazieren. Natürlich
hatte er Lust! Es war ein Wintertag wie dieser, aber nicht schon dunkel wie
jetzt, sondern es begann erst zu dämmern. Im Lycher Hals kamen ihnen mit
Schlitten ein paar Kinder entgegen, aber vor dem Haus der Beginen rollte man
noch mächtige Ballen, die nicht zu einer Gruppe von Schneemännern, wie Valentin
an sorgsam geformten Brüsten sah, sondern zu einer Gruppe Beginen zusammengesetzt
werden sollten. Sie sprachen über Origenes und Cassianus und ihre Theorien vom
mehrfachen Schriftsinn.
Ob das denn wirklich ein
Fortschritt sei, die Bibel, wie er es in Leipzig gelernt habe, nur in einem Sinn,
nur im Wortsinn, zu lesen.
»Prüft es
doch«, sagte Heinisch. »Zum Beispiel an der Geschichte von Gottes Geburt.
Maria, die mit Josef nicht verheiratet ist, bringt in einem elenden Stall ein
Kind zur Welt. Hirten hören von Engeln, dass dieses Kind ihr Erlöser sei, und
beeilen sich, vor ihm niederzuknien. Durch einen Stern erfahren gebildete
Könige vom selben Kind und dass es etwas Besonderes sei und beeilen sich auch,
vor ihm niederzuknien…«
Der Alte machte eine Pause.
Seine Beleibtheit hatte ihn schweratmig gemacht und der Gang durch den Schnee
ihn erschöpft.
»Und wenn ich
nun«, fuhr er mit weißem Hauch vor dem Mund fort, »diese Geschichte als ein
Beispiel auffasse, wenn ich keinen Bericht darin sehe, sondern ein Gleichnis –
was habe ich dann?«
»Eine Frau,
aus aller menschlichen Ordnung gefallen.« Valentins Augen, während er sprach,
wurden schmal. »Schwanger, obwohl nicht verheiratet, unterwegs zu einer
Volkszählung, aber noch nicht gezählt, in Armut, ein Kind zur Welt bringend –
nein, noch einfacher: Mann und Frau, die nur nach dem Gesetz nicht Mann und
Frau sind, ein Kind, und dazu die Menschen, Arme und Reiche, Ungebildete und
Gebildete, die von himmlischen, von kosmischen Kräften dazu angehalten werden,
ein Neugeborenes für das Höchste zu halten.«
»Ja und? Was
ist mit dem Gruß der Engel, dem ›Friede auf Erden‹?«
»Wenn wir ein
Neugeborenes derart hoch achten würden, das Neugeborene, jedes Neugeborene,
wenn wir das wirklich als das Allerhöchste, Allerwichtigste, Allerschönste
ansähen, wäre es uns nicht mehr möglich, die Welt mit Krieg anzufassen.«
»Das wäre doch eine
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