Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
Vom Netzwerk:
mich befleckt hatte, und zwar mit dem Verlust der
Gewissheit, dem Zweifel an der Existenz einer Wahrheit, dem Bruch all der
kindlichen Schwüre, auf Knien zu Hause und mit gefalteten Händen; ich, die ich
mich am Leben erhalten hatte mit dem Wissen, wie man stiehlt, während der Tross
auf den Aufbau des Lagers für die Mannschaften wartete, wie man Männer begrüßt
und wie die Herren vom Feldwebel an aufwärts, besonders wenn sie auch Kunden zu
werden versprachen; ich, die ich gelernt hatte, die Strohballen schneller
abzuladen, den Besen schneller zu schwingen, das Wasser schneller zu tragen,
wenn der Hurenwebel in Sichtweite war, so zu tun, als sei mir an der Leidenschaft
eines Arkebusiers, den ich bediente, gelegen, während ich mich mit Leidenschaft
meines Gedächtnisses und meines Tastsinns bediente: Wo hatte er den Gürtel mit
der Patronentasche abgelegt? Hier, ich hab ihn. Und tatsächlich, es sind auch
Münzen darin. Die ich zählte. Damit wir sie ihm nachher mittels Bier oder
Würfelspiel abnehmen konnten.
    Ich, die böhmische Dirne, wie
seine Judith mich vorgestern zu nennen beliebte, ich, die ich gelernt hatte,
dass man Löwenzahn, Gänseblümchen, Gras und Melde essen kann, welche Wurzeln
und wie man Bucheckern am schnellsten aufliest, wie man Fische fängt und wie
man kleines Getier zubereitet – ich würde auch draußen am Leben bleiben.
    So, wie ich
es trotz der Pest auch im Innern schon wochenlang tat. Indem ich vorsichtig war.
Die Innenstadt mied. Denn dort vor allem waren die Fliegen.
    Nicht nur die
gewöhnlichen schwarzen, auch die gelben Stechfliegen, die großen grauen
Fleischfliegen, die blau schillernden und die glänzend grün-goldenen tauchten
seit Wochen schon überall auf. Sie sonnten sich an den Mauern der Häuser,
drangen in Flure und Stuben, krochen über Kinder und Kranke… In dicken Trauben
stoben sie vor einem vom Weg auf. Es half nicht, dass man nach ihnen schlug. Es
half auch nicht, dass man rannte. Ging man langsamer, war der Schwarm wieder
da…
    Ich suchte mir meine
Kundschaft lieber in der Gasse Achter der Mauer. Valentin fragte nicht, wo dies
und das herkam, ein Stück Brot, das abends noch nicht da war, drei Äpfel, die
morgens auf dem Tisch lagen. Doch bat er mich manchmal, am Tage zu schlafen.
    »Du siehst müde aus, Sorka.
Ich pass auf Honza auf. Leg du dich doch hin.«
    Einmal brachte ich sogar ein
Stück Pökelfleisch mit.
    Nun weiß ich
auch, wo das herkam. Von hier. Aus einem der Fässer hinter mir, am Ende der
Höhle. Aus der Zuflucht der Scharfrichter, diesem komfortablen Versteck! Es war
eine gute Idee gewesen, mich mit dem jungen Scharfrichter einzulassen.
     
     
    Ich hatte
Valentin meines Kindes wegen zurückhalten wollen. Um des Kindes wegen, dem ich
einmal vom Amtseid der Henker erzählen will. Von der Dömnitz, die unter der
Stadtmauer hindurch in die Stadt fließt, einen Bogen beschreibt und ein Stück
weiter unter ihr wieder hinaus. Von den zwei Stegen auf die so entstandene
Insel, dem einen, der in die Mühlenstraße führt und an dem alljährlich mein
Hauptkunde, als er noch klein war, und seine Geschwister Aufstellung nehmen
mussten, wenn die Patenonkel und Patentanten erschienen und der Rat ihrem Vater
weiße Handschuhe gab, und dem anderen, der in die Gasse Achter der Mauer führt
und den ich in den Nächten benutzte.
    Es war mir um
das Kind gegangen, dem ich einmal erzählen werde, dass die Scharfrichter nur
mit Erlaubnis des Rates die Stadt verlassen durften, nur mit Genehmigung andere
Henker bei sich beherbergen. Die schwören müssen, nicht »zu Heiden und
Weiden/zu Gräben und wo sonst Fische leben/zu Kellern, Krügen und Schenken/die
Schritte zu lenken«. Und die dennoch ebendies taten: Sie saßen in Kneipen, sie
fischten, sie jagten, sie lenkten ihre Schritte in mondloser Nacht an die
Dömnitz: dorthin, wo ein Gitter die Mauer nach unten ins Wasser verlängert. Sie
hatten sich dieses Gitter verfügbar gemacht. Der Henker, seine Frau, seine
Kinder, seine Knechte, seine Magd, alle, die lange schwarze Umhänge tragen
mussten, damit man sie schon von Weitem erkannte, waren sehr gute Schwimmer und
ließen ihre Umhänge auf dem Grundstück zurück. Sie kamen und gingen, wie es
ihnen beliebte. Niemand bemerkte ihr Verschwinden, denn niemand kam auf die
Insel und zählte im Haus die Insassen nach.
    Ursprünglich,
sagte mir mein Hauptkunde Peter, war dies Versteck hier nur eines zum Wechseln
der Kleider. An der Brücke musste man noch einmal Acht geben

Weitere Kostenlose Bücher