Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
weitere Umschläge, auf denen mit Frauenhandschrift die Namen ranghoher Geistlicher geschrieben waren, und man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass in jedem ein schmachtender Liebesbrief oder ein Hinweis für den Ort und die Zeit der nächsten Liebesnacht steckte.
Er öffnete den Brief und las.
Sandro!
Bitte komm, so schnell du kannst, in die Via Veneziani, kaum zu verfehlen, gleich neben der Kirche Santa Maria in Trastevere. Dort gibt es ein verfallenes Haus, in dessen erstem Stock sich ein kleines Quartier befindet. Ich werde vor dem Haus auf dich warten.
Die Dirne Porzia wohnt dort, sie könnte dir vielleicht bei deinem Mordfall weiterhelfen.
Antonia.
Natürlich machte er sich sofort auf den Weg. Er ärgerte sich, weil er nicht früher in den Vatikan zurückgekehrt war, denn falls Antonia nicht mehr in der Via Veneziani warten würde, wäre das die traurige Krönung eines misslungenen Abends. Zuerst war Bianca verschwunden, womit er der Möglichkeit beraubt war, sich mit ihr zu versöhnen und Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Forli hatte er schon früh aus den Augen verloren, und dann auch Ranuccio, Sebastiano und seinen Vater. Danach hatte es keinen vernünftigen Grund gegeben, auf der Feier zu bleiben, und doch hatte er noch ein, zwei Stunden dort verbracht, hin- und hergerissen zwischen der Versuchung, Wein zu trinken, und dem dagegen anschreienden Gewissen. Tatsächlich hatte er sich zwei Kelche Wein genommen, und anstatt sie zu trinken, hatte er den Inhalt des ersten Kelches in eine Obstschale und den Inhalt des zweiten in ein Tintenfass gekippt. Seinen nächsten Brief würde Ranuccio mit Wein statt mit Tinte schreiben.
Was ihn auf seinem eiligen Weg in die Via Veneziani wirklich ärgerte, war nicht so sehr, dass er womöglich um ein Gespräch mit Porzia gebracht würde, auch wenn er sich davon einiges versprach. Aber sollte er Antonia nicht mehr antreffen, würde er um ein Gespräch mit ihr gebracht. Den ganzen Tag schon, seit Carlotta mit ihm geredet hatte, hatte er an den richtigen Worten gefeilt, hatte Entschuldigungen formuliert, Erklärungen präzisiert und Satzwendungen verworfen, und das alles nebenher, zwischen und während seiner anderen Aufgaben. Vermutlich hätte er auch noch die zweite Nachthälfte damit verbracht. Dass Antonia ihm eine Gelegenheit gab, das gestrige Debakel vergessen zu machen, und dass er diese Gelegenheit – wenn auch unwissentlich – hatte verstreichen lassen, war eine Vorstellung, die an ihm nagte, noch bevor sie sich bewahrheiten konnte.
In der Finsternis der bewölkten Viertelmondnacht sah die
schwarze Silhouette der Santa Maria in Trastevere wie ein erhobener Zeigefinger aus. Hinter jeder Säule der Kolonnaden trieb sich ein anderer Verbrecher herum: Diebe, Strizzi, Falschmünzer … Sandro ignorierte sie alle und bog in die Via Veneziani ein. Seine Augen suchten die schmale, schattenhafte Gasse ab, forschten nach Lücken in der Dunkelheit, nach einer Bewegung. Ein paar Katzen kreuzten seinen Weg und rieben sich an seinem Gewand. Er wünschte, er hätte ein paar Scheiben Schinken von der Feier mitgenommen, doch das war nicht der Fall, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die abgemagerten Kreaturen mit entschuldigenden Worten vorsichtig zur Seite zu schieben.
Er drang weiter in die Gasse ein. Nach ein paar Schritten hörte er ein Geräusch, das aus einem pechschwarzen Winkel kam, und im nächsten Augenblick sah er die Gestalt einer Frau. Er wusste, noch bevor er ihr Gesicht erkannte, dass es sich um Antonia handelte.
»Sandro! Endlich bist du da.«
»Es tut mir leid«, sagte er und meinte damit alles, alles, alles: dass er so spät kam, dass er das Fenster zerstört hatte, dass er ihr nie gesagt hatte, was er für sie fühlte …
»Das macht doch nichts«, sagte sie. »Die Nacht ist warm.«
Die Nacht, dachte er, diese Düsterkeit um sie beide herum, machte es einfacher, sich zum ersten Mal zu begegnen nach dem, was gestern geschehen war. Man musste sich nicht in die Augen sehen, man sah nur die Umrisse des anderen, und das war ein bisschen so, als wäre man nur zur Hälfte da, als könne man so tun, als sei man ein bisschen abwesend, falls man etwas Peinliches sagen sollte. Die Dunkelheit verhinderte Verlegenheit. Sandro jedenfalls fühlte sich in Antonias Gegenwart unbefangen wie schon lange nicht mehr. Er würde ihr sagen, dass er sie liebte, und er würde gestehen, wovor er sich fürchtete. Sie würde ihn verstehen. Wieso
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