Die Hurenkönigin von Alezcana - ROTE LATERNE - Band 3 (German Edition)
Selbstjustiz üben und Pilar keinem ordentlichen Gericht überantworten. So wie Pilar nach ihrem eigenen Gesetz gehandelt hatte, so handelte nun auch Don Felipe nach seinem Gesetz, und das deckte sich kaum mit dem, das in den Gesetzbüchern geschrieben stand. Das gelangte vielleicht in der Stadt zur Anwendung, und auch dort geschah das häufig nur unzureichend. So musste es Evita wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit im Brunnen aushalten. Aber dann? Was sollte sie tun? An wen konnte sie sich wenden? Die Dirne und ihre Tochter hatten keine Freunde. Sie waren beide immer einsam gewesen. Nun umfing diese Einsamkeit Evita, und es rächte sich der Hochmut, den Pilar Soltano oft genug zur Schau getragen hatte.
*
In Don Francos Kneipe ging es heute wieder hoch her. Es gab nur ein Thema: die Puta especiale, die zur Mörderin geworden war und nun im Loch saß.
"Sie sollten ihr den Bauch aufschlitzen!", schrie eine blondgefärbte Dirne.
"Etwas anderes wäre besser!", rief eine dicke Mestizin aus, die sich einmal mit der Leona geprügelt und dabei den kürzeren gezogen hatte. Gruppenweise waren sie an dem vergitterten Loch vorübergezogen, hatten hinein gespuckt oder Fäkalien hineingeworfen. Ganz und gar wüst waren die Beschimpfungen, die Pilar zu ertragen hatte. Zusammengekauert hockte sie in einer Ecke des feuchten, modrigen Verließes, in das nachts die Ratten kamen, um den Brocken schimmligen Brots zu fressen, den man der Gefangenen hingeworfen hatte.
"Sie hatte auch gute Seiten", mischte sich die rothaarige Elena ein, die von Pilar einmal als knochige Kuh bezeichnet worden war. "Sie hatte ein Herz, und sie hat es nie leicht gehabt!"
"Wie willst du das wissen?", fragte die Blonde und schob einen Mann von sich weg, der ihr dauernd unter den Rock greifen wollte.
"Sie hat ein Kind aufgezogen!", stellte Elena fest. "Wer von euch, so frage ich, wer hat ein Kind aufgezogen? Du vielleicht, Antonia? Was hast du mit deinem Wurf gemacht, als du schwanger gegangen bist vor ein paar Jahren?"
"Ich habe es verloren!"
"lm Rio Negro hat sie es ersäuft, die Schlampe!", keifte die dicke Mestizin.
"Du Lügnerin, du verkommene!", schrie Antonia und ging mit den Fäusten auf die Halbindianerin los. "Du warst schon öfter schwanger! Du wirst es mit deinen Bälgern so gemacht haben!"
"Schluss!", schrie Don Franco und ruderte mit den Armen. "Kümmert euch um die Kerle, sonst schmeiß ich euch raus! Hurenpack, elendiges!"
Einer der Männer spielte Gitarre. Jetzt spielte er das Lied von der Löwin, die einen Menschen fraß.
Und alle sangen mit. Draußen unter dem Fenster kauerte Evita. Bei Einbruch der Dunkelheit war sie aus dem Brunnen gekrochen und ins Dorf gelaufen. Hier und.dort musste sie sich eine Zeitlang in den baufälligen Häusern verbergen. Zum Kerker konnte sie überhaupt nicht gehen, denn dorthin gingen jetzt alle. Alle wollten einen Blick in das finstere Loch auf die unglückselige Leona werfen. Alle wollten ein wenig Spaß haben, wollten sich die Vielfalt der Gefühle von der Seele schimpfen, denn hier durften sie es. Die Leona war jetzt ein gutes Ventil. Sie musste alles über sich ergehen lassen, war wehrlos und konnte allenfalls zurückfauchen. Evita suchte Hilfe. Aber sie wusste nicht, woher sie diese bekommen sollte. Und sie hatte Angst vor den Schergen des Don Felipe. Natürlich hatte sie nicht zuletzt vor ihm selbst ganz schlimme Furcht. Jetzt noch einmal mit ihm zu schlafen, hätte sie wohl nicht fertiggebracht. Aber wahrscheinlich würde dieser Mann keine Rücksicht darauf nehmen und sie brutal zwingen. Jetzt vielleicht erst recht, weil niemand mehr da war, der sie beschützen und vor dieser Pein bewahren konnte. Evita war niemals vorher in ihrem Leben hilfloser gewesen. Sie war stets recht selbständig gewesen, denn schon früher war ihre Mutter oft tagelang unterwegs und hatte Evita in der Obhut anderer Dirnen zurückgelassen. Aber damals hatte Evita die Abwesenheit Pilars ganz anders empfunden. Damals hatte sie gewusst, Pilar würde zurückkehren.
Evita konnte nicht einmal ahnen, was der andere Tag ihr bringen würde. Das Mädchen hörte die Reden in der Taverne, hörte das Geschrei, das Gebrüll der Rache und musste feststellen, dass man der Mutter ihr Schicksal scheinbar gönnte. Evita war allein und von allen verlassen. Unten am Gefängnis johlte die Menge. Das würde bestimmt die Nacht hindurch andauern. Mit einem tiefen Seufzer rappelte sich das Mädchen auf. Es spürte plötzlich eine
Weitere Kostenlose Bücher