Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu bewundern. Die höchsten Stockwerke des Baumhauses waren ein perfekter Platz, von wo aus man mit ansehen konnte, wie der östliche Horizont dem Morgen zudämmerte. Die Streifen der hohen Zirruswölkchen wurden rosa, dann schien das Meer selbst zu schmelzen, während die Sonne über den flachen Horizont schwebte.
»Gehen wir schwimmen«, sagte Siri. Das strahlende Licht vom Horizont leuchtete auf ihrer Haut und warf ihren Schatten vier Meter über die Bretter der Plattform.
»Ich bin zu müde«, sagte ich. »Später.« Wir waren fast die ganze Nacht wach gewesen, hatten geredet, miteinander geschlafen, geredet und wieder miteinander geschlafen. Im grellen Morgenlicht fühlte ich mich leer, und mir war leicht übel. Ich spürte die sanften Bewegungen der Insel unter mir als verhaltenes Schwindelgefühl – die Schwierigkeiten eines Betrunkenen mit der Schwerkraft.
»Nein. Gehen wir jetzt«, sagte Siri, ergriff meine Hand und zog mich mit. Ich war verärgert, widersprach aber nicht. Siri war sechsundzwanzig, sieben Jahre älter als ich, während dieses Ersten Wiedersehens, aber ihr impulsives Verhalten erinnerte mich oft an den Teenager Siri, den ich erst vor zehn Monaten meiner Zeit vom Festival weggetragen hatte. Ihr tiefes, beiläufiges Lachen war dasselbe. Ihre grünen Augen leuchteten ebenso durchdringend, wenn sie ungeduldig war. Die lange Mähne kastanienfarbenen Haars hatte sich nicht verändert. Aber ihr Körper war reifer geworden, von einem Versprechen erfüllt, das damals erst angedeutet gewesen war. Ihre Brüste waren noch hoch und voll, fast mädchenhaft, und darüber befanden sich Sommersprossen, die einem so durchscheinenden Weiß wichen, daß man das feine Netz blauer Äderchen sehen konnte. Aber irgendwie waren sie anders. Sie war anders.
»Kommst du mit mir, oder sitzt du einfach hier herum?« fragte Siri. Sie hatte den Kaftan ausgezogen, als wir das unterste Deck erreicht hatten. Unser kleines Boot war immer noch am Dock vertäut. Über uns öffneten sich die Baumsegel der Insel der morgendlichen Brise. In den vergangenen Tagen hatte ich immer darauf bestanden, daß wir Badekleidung beim Schwimmen trugen. Jetzt trug sie keine. Ihre Brustwarzen richteten sich in der kühlen Luft auf.
»Verlieren wir nicht den Anschluß?« fragte ich und sah blinzelnd zu den flatternden Baumsegeln hinauf. An den vergangenen Tagen hatten wir stets auf die Flaute um die Mittagszeit gewartet, wenn die Insel ruhig im Wasser trieb und das Meer wie ein glatter Spiegel war. Jetzt strafften sich die Tauranken, als die dicken Blätter sich mit Wind füllten.
»Sei nicht albern«, sagte Siri. »Wir können immer eine Kielwurzel packen und ihr folgen. Oder eine Labranke. Komm schon!« Sie warf mir eine Osmosemaske zu und zog ihre eigene über. Durch den durchsichtigen Film sah ihr Gesicht wie eingeölt aus. Sie holte ein großes Medaillon aus der Tasche ihres Kaftans und legte es sich um den Hals. Das Metall sah dunkel und geheimnisvoll auf ihrer Haut aus.
»Was ist das?« fragte ich.
Siri nahm die Osmosemaske nicht ab, um zu antworten. Sie legte die Kernfäden an den Hals und gab mir die Hörstöpsel. Ihre Stimme klang blechern. »Übersetzungsdisc«, sagte sie. »Ich habe gedacht, du wüßtest alles über technischen Krimskrams, Merin. Wer zuletzt im Wasser ist, ist eine lahme Meerschnecke.« Sie hielt die Disc auf der Brust mit einer Hand fest und sprang von der Insel. Ich konnte die hellen Halbkugeln ihrer Pobacken sehen, als sie eine Pirouette machte und in die Tiefe strampelte. Innerhalb von Sekunden war sie nur ein weißer Schemen im Wasser. Ich zog meine Maske auf, drückte die Komfäden fest und sprang ins Meer.
Die Unterseite der Insel war ein dunkler Fleck auf einer Decke aus kristallenem Licht. Ich hütete mich vor den dicken Labranken, obwohl Siri mir klar gemacht hatte, daß sie sich an nichts Größerem als dem winzigen Plankton labten, das ab und zu im Sonnenlicht zu sehen war wie Staub in einem leeren Ballsaal. Kielwurzeln ragten wie angenagte Stalaktiten Hunderte Meter in die purpurnen Tiefen hinab.
Die Insel bewegte sich. Ich konnte das schwache Wabern der im Wasser treibenden Ranken sehen. Zehn Meter über mir spiegelte sich das Licht im Kielwasser. Einen Augenblick würgte ich, weil mich das Gel der Maske so sicher erstickte wie das umliegende Wasser, dann entspannte ich mich und die Luft strömte ungehindert in meine Lungen.
»Tiefer, Merin«, sagte Siris
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