Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
ab.
Sie lag da, als wäre sie Teil meines Fleisches. Ich zog, kratzte und zerrte an der Schnur, bis sie riß und abfiel. Ich krallte an dem kreuzförmigen Klumpen auf meiner Brust. Er ging nicht ab. Es war, als wäre meine Haut mit den Rändern der Kruziform verwachsen. Abgesehen von den Kratzwunden meiner Fingernägel, spürte ich keine Schmerzen oder Empfindungen in der Kruziform selbst oder dem umliegenden Fleisch, nur schieres Entsetzen in der Seele beim Gedanken, daß dieses Ding mit mir verwachsen war. Nachdem sich der erste Anfall von Panik gelegt hatte, setzte ich mich eine Minute hin, dann zog ich hastig das Gewand an und rannte ins Dorf zurück.
Mein Messer war fort, der Strahler, Scheren, Rasierklinge – alles, das mir hätte helfen können, das Gewächs auf meinen Rippen herauszuschneiden. Meine Fingernägel hinterließen blutige Striemen über dem roten Wulst und meiner Brust. Dann fiel mir der Medscanner ein. Ich strich den Transceiver über die Brust, las den Diskeymonitor, schüttelte ungläubig den Kopf und nahm dann ein Ganzkörperscanning vor. Nach einer Weile bat ich um Ausdrucke der Ergebnisse und saß sehr lange Zeit reglos da.
Jetzt sitze ich hier und halte die Bildsonden. Die Kruziform ist auf den sonischen und den k-cross-Bildern eindeutig zu erkennen ... ebenso die inneren Fasern, die sich wie dünne Tentakel, wie Wurzeln, durch meinen ganzen Körper ausbreiten.
Eine Vielzahl Ganglien erstrecken sich von einer Verdickung über dem Brustbein zu Fasern überall hin – ein Alptraum von Nematoden. Soweit ich das mit meinem einfachen Feldscanner feststellen kann, enden die Nematoden in den Mandeln und anderen basalen Ganglien in jeder Schädelhälfte. Meine Temperatur, Stoffwechsel und Lymphozytwert sind normal. Es sind keine Fremdkörper eingedrungen. Laut Scanner sind die Nematodenfasern die Folge vielfältiger, aber einfacher Metastasen. Laut Scanner besteht die Kruziform selbst aus verwandtem Gewebe ... die DNS ist meine. Ich gehöre zur Kruziform.
Tag 116:
Jeden Tag schreite ich die Grenzen meines Käfigs ab – die Flammenwälder im Süden und Osten, die bewaldeten Schluchten im Nordosten und die Kluft im Norden und Westen. Die Fünf Dutzend und Zehn lassen mich nicht weiter als zur Basilika in die Kluft hinunter steigen. Die Kruziform läßt nicht zu, daß ich mich mehr als zehn Kilometer von der Kluft entferne.
Das konnte ich anfangs nicht glauben. Ich hatte beschlossen, in den Flammenwald einzudringen und auf mein Glück und Gottes Hilfe zu vertrauen, die schon dafür sorgen würde, daß ich heil durchkam. Aber ich war kaum zwei Kilometer in die Ausläufer des Waldes eingedrungen, als ich Schmerzen in Brust, Armen und Kopf bekam. Ich war sicher, daß ich einen Herzanfall hatte. Aber kaum hatte ich mich wieder zur Kluft umgedreht, ließen die Symptome nach. Ich experimentierte eine Weile, und die Resultate waren unweigerlich stets dieselben. Jedesmal, wenn ich in den Flammenwald und weg von der Kluft ging, kamen die Schmerzen zurück und wurden schlimmer, bis ich mich wieder umdrehte.
Ich begreife langsam auch anderes. Gestern stieß ich auf das Wrack des ursprünglichen Saatschifflandungsboots, als ich den Norden erkundete. Nur ein verrostetes, von Reben überwuchertes Wrack liegt noch zwischen den Felsen am Rand des Flammenwalds bei der Schlucht. Aber als ich vor den bloßliegenden Metallrippen des uralten Schiffs kauerte, konnte ich mir den Jubel der siebzig Überlebenden vorstellen, ihren kurzen Ausflug zur Kluft, ihre Entdeckung der Basilika, und ... – und was? – Spekulationen über diesen Punkt hinaus sind vergeblich, aber Mutmaßungen bleiben. Morgen werde ich noch einmal versuchen, einen der Bikura medizinisch zu untersuchen. Da ich jetzt ›zur Kruziform gehöre‹, haben sie vielleicht nichts mehr dagegen.
Ich nehme jeden Tag ein Medscanning von mir selbst vor. Die Nematoden bleiben – sie sind möglicherweise dicker, möglicherweise auch nicht. Ich bin überzeugt, daß sie rein parasitär sind, auch wenn mein Körper keinerlei Symptome dafür gezeigt hat. Ich betrachte mein Gesicht im Teich beim Wasserfall und sehe nur dasselbe lange, alternde Antlitz, das mir in den letzten Jahren so sehr mißfällt. Als ich heute morgen mein Ebenbild im Wasser betrachtete, machte ich den Mund weit auf und rechnete halb damit, graue Fasern und Nematodenbüschel vom Gaumen und aus dem Hals wachsen zu sehen. Da war nichts.
Tag 117:
Die Bikura sind geschlechtslos. Nicht
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