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Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Autopsie vorgenommen, die gravierende innere Verletzungen ergeben hatte; sogar das Herz des armen Kerls war durch die Wucht des Aufpralls zu Brei zerquetscht worden.
    Ich berührte seine kalte Haut. Die Leichenstarre setzte ein. Meine Finger strichen über die kreuzförmige Wölbung auf seiner Brust, da zog ich rasch die Hand weg.
    Die Kruziform war warm.
    »Geh weg!«
    Ich blickte auf und sah Beta und die restlichen Bikura, die da standen. Ich zweifelte nicht daran, daß sie mich im nächsten Augenblick ermordet hätten, wäre ich nicht von der Leiche weggegangen. Während ich gehorchte, stellte ein zur Narretei verängstigter Teil meines Denkens fest, daß die Fünf Dutzend und Zehn nun die Fünf Dutzend und Neun waren. In dem Moment schien das komisch zu sein.
    Die Bikura hoben den Leichnam hoch und gingen zum Dorf zurück. Beta sah zum Himmel auf, sah mich an und sagte:
    »Es ist bald Zeit. Du kommst mit.«
    Wir stiegen in die Kluft hinab. Der Leichnam wurde vorsichtig in einen Korb aus Ranken gebunden und mit uns hinuntergelassen.
    Die Sonne erhellte das Innere der Basilika noch nicht, als sie Alphas Leichnam auf den breiten Altar legten und die Fetzen seiner Kleidung entfernten.
    Ich weiß nicht, was ich als nächstes erwartet habe – möglicherweise einen rituellen Akt des Kannibalismus. Nichts hätte mich überrascht. Statt dessen hob einer der Bikura die Arme, als gerade die ersten bunten Lichtstrahlen in die Basilika fielen, und stimmte an: »Du wirst dem Kreuz alle Tage folgen.«
    Die Fünf Dutzend und Zehn knieten nieder und wiederholten den Satz. Ich blieb stehen. Ich sagte nichts.
    »Du wirst alle Tage zur Kruziform gehören«, sagte der kleine Bikura, und in der Basilika hallten die Stimmen, die den Satz wiederholten. Licht von der Farbe und Beschaffenheit gerinnenden Blutes warf den riesigen Schatten des Kreuzes an die gegenüberliegende Wand. »Du gehörst von nun an bis in alle Ewigkeit zur Kruziform«, ertönte der Gesang, während draußen der Wind anschwoll und die Orgelpfeifen des Canyons mit der Stimme eines gequälten Kindes wimmerten.
    Als die Bikura zu singen aufhörten, flüsterte ich kein ›Amen‹. Ich blieb stehen, während sich die anderen mit der plötzlichen und gründlichen Gleichgültigkeit verzogener Kinder abwandten, die das Interesse an ihrem Spiel verloren haben.
    »Es gibt keinen Grund zu bleiben«, sagte Beta, als die anderen gegangen waren.
    »Ich will aber«, sagte ich und erwartete einen Befehl, mich zu entfernen. Beta drehte sich ohne ein Achselzucken um und ließ mich stehen. Das Licht wurde düsterer. Ich ging nach draußen, um den Sonnenuntergang zu betrachten, und als ich wieder hineinkam, hatte es angefangen.
    Vor Jahren habe ich einmal in der Schule ein Zeitrafferholo einer verwesenden Känguruhmaus gesehen. Eine Woche langsames Recyceln der Natur war auf dreißig Sekunden des Grauens beschleunigt worden. Das Fleisch des kleinen Leichnams blähte sich plötzlich, fast komisch auf, dann streckte sich die Haut, Wunden traten auf, gefolgt vom plötzlichen Auftauchen von Maden in Mund und Augen, offene Schwären, und zuletzt dann das korkenzieherartige Abschälen des Fleisches von den Knochen – kein anderer Ausdruck paßt zu dem Bild –, als die Maden in einer Zeitrafferhelix des Aasverzehrs von rechts nach links, vom Kopf zum Schwanz wuselten und nichts als Knochen und Knorpel und Haut übrigließen.
    Jetzt betrachtete ich den Leichnam eines Menschen.
    Ich blieb stehen und sah fassungslos zu, während das letzte Licht allmählich erlosch. In der hallenden Stille der Basilika war kein Laut zu hören, abgesehen vom Pochen des Pulsschlags in meinen Ohren. Ich beobachtete, wie Alphas Leichnam erst zuckte und dann sichtlich vibrierte und in den brutalen Spasmen der Verwesung beinahe vom Altar levitierte. Ein paar Sekunden schien die Kruziform größer, ihre Farbe leuchtender zu werden, bis sie wie rohes Fleisch glühte, und da bildete ich mir ein, einen flüchtigen Blick auf das Netz von Fasern und Nematoden zu erhaschen, das den verwesenden Leichnam zusammenhielt wie das Metallgitter die Gußform eines Bildhauers. Das Fleisch schmolz.
    Ich blieb in dieser Nacht in der Basilika. Der Abschnitt rings um den Altar wurde weiter vom Leuchten der Kruziform auf Alphas Brust erhellt. Wenn sich der Leichnam bewegte, warf das Licht seltsame Schatten an die Wände.
    Ich verließ die Basilika nicht, bis auch Alpha sie am dritten Tag verließ, aber die meisten sichtbaren

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