Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
zölibatär oder hermaphroditisch oder unreif – geschlechtslos. Sie haben ebenso wenig äußere wie innere Genitalien wie die Plastikpuppe eines Kindes. Nichts deutet darauf hin, daß der Penis oder die Hoden oder vergleichbare weibliche Organe verkümmert sind oder chirurgisch verändert wurden. Es gibt kein Anzeichen, daß sie je existiert haben. Urin wird durch einen primitiven Harnleiter gesammelt, der in einer kleinen Blase in der Nachbarschaft des Anus endet – eine Art krude Kloake.
Beta hat die Untersuchung zugelassen. Der Medscanner hat bestätigt, was meine Augen nicht glauben wollten. Del und Theta haben ebenfalls eingewilligt, sich scannen zu lassen. Ich habe absolut keinen Zweifel daran, daß der Rest der Fünf Dutzend und Zehn ebenso geschlechtslos ist. Nichts deutet darauf hin, daß sie ... verändert worden sind. Ich würde sagen, daß sie alle so geboren wurden, aber von welchen Eltern? Und wie gedenken diese geschlechtslosen Klumpen menschlichen Tons, sich zu vermehren? Das muß auf irgendeine Weise mit der Kruziform zusammenhängen.
Als ich mit meinen Medscannings fertig war, habe ich mich ausgezogen und selbst untersucht. Die Kruziform wölbt sich auf meiner Brust wie rosa Narbengewebe, aber ich bin noch ein Mann. Wie lange?
Tag 133:
Alpha ist tot.
Ich war vor drei Tagen morgens bei ihm, als er gestürzt ist. Wir waren etwa drei Kilometer im Osten und suchten Chalmaknollen zwischen den großen Felsbrocken am Rand der Kluft. Es hatte fast zwei Tage geregnet, die Felsen waren schlüpfrig. Ich selbst hielt mühsam das Gleichgewicht, sah auf und erblickte Alpha, der den Halt verlor, eine breite Steinplatte hinabrutschte und über den Rand fiel. Er schrie nicht. Der einzige Laut war das Ratschen seines Gewands auf dem Fels, Sekunden später gefolgt vom ekelerregenden Platschen, wie von einer weggeworfenen Melone, als sein Körper achtzig Meter tiefer auf einen Vorsprung prallte.
Ich brauchte eine Stunde, bis ich einen Weg zu ihm hinunter gefunden hatte. Noch bevor ich den gefährlichen Abstieg begann, war mir klar, daß jede Hilfe zu spät kam. Aber es war meine Pflicht.
Alphas Leichnam war halb zwischen zwei Felsen eingeklemmt. Er muß sofort tot gewesen sein; seine Arme und Beine waren gebrochen, die rechte Seite seines Schädels eingedrückt. Blut und Hirnmasse klebten an dem nassen Felsen wie die Überreste eines traurigen Picknicks. Ich weinte, als ich über dem kleinen Mann stand. Ich weiß nicht, warum ich geweint habe, aber ich habe es getan. Und während ich geweint habe, habe ich ihm die Letzte Ölung verabreicht und gebetet, Gott möge die Seele dieser armen, geschlechtslosen kleinen Person zu sich nehmen. Später wickelte ich den Leichnam in Ranken, kletterte mühsam die achtzig Meter zur Klippe hinauf und zog den zerschmetterten Leichnam – gelegentlich innehaltend und vor Erschöpfung keuchend – zu mir herauf.
Als ich Alphas Leichnam ins Dorf trug, erntete ich kaum Aufmerksamkeit. Schließlich kamen Beta und ein halbes Dutzend andere herüber und sahen gleichgültig auf den Leichnam hinab. Niemand fragte mich, wie er gestorben war. Nach ein paar Minuten verlief sich die kleine Menge.
Später trug ich Alphas Leichnam zu der Stelle, wo ich Tuk vor so vielen Wochen begraben hatte. Ich grub mit einem platten Stein ein flaches Grab, als Gamma auftauchte. Der Bikura riß die Augen auf, einen Moment glaubte ich, Emotionen auf den leeren Zügen zu sehen.
»Was machst du da?« fragte Gamma.
»Ich begrabe ihn.« Ich war zu erschöpft, mehr zu sagen. Ich lehnte mich an eine dicke Chalmawurzel und ruhte mich aus.
»Nein.« Es war ein Befehl. »Er gehört zur Kruziform.« Ich sah Gamma nach, der sich umdrehte und ins Dorf zurückeilte. Als der Bikura fort war, zog ich das grobe Leichentuch aus Fasern weg, das ich über den Leichnam gezogen hatte.
Alpha war ohne jeden Zweifel wirklich tot. Es spielte weder für ihn noch für das Universum eine Rolle, ob er zur Kruziform gehörte oder nicht. Der Sturz hatte ihm fast seine gesamte Kleidung und seine ganze Würde genommen. Die rechte Seite seines Kopfes war aufgeplatzt und ausgelaufen wie ein Frühstücksei. Ein Auge sah blicklos durch einen dicken Film zum Himmel Hyperions, das andere blickte träge unter einem halb geschlossenen Lid hervor. Die Rippen waren so gründlich gebrochen, daß Splitter aus der Brust ragten. Beide Arme waren gebrochen, das linke Bein fast abgedreht. Ich hatte mit dem Medscanner eine oberflächliche
Weitere Kostenlose Bücher