Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
worden wäre. Präsidentin Gladstone und viele andere betrachteten Kassad und die anderen Befehlshaber von FORCE als Retter.
Letztendlich wurde Kassad auf ein Lazarett-Spinschiff gebracht, das den langen Rückflug ins Weltennetz antrat. Da die meisten Operationen ohnedies in der Fuge vorgenommen wurden, war es einigermaßen logisch, die alten Lazarettschiffe an den Schwerverwundeten und wiederbelebungsfähigen Toten arbeiten zu lassen. Wenn Kassad und die anderen Patienten das Weltennetz erreichten, würden sie wieder für den aktiven Dienst bereit sein. Wichtiger war: Bis dahin hatte Kassad eine Zeitschuld von mindestens achtzehn Standardmonaten angesammelt, und es war durchaus möglich, daß sich die Kontroversen um seine Person inzwischen gelegt hatten.
Kassad wachte auf und sah die dunkle Gestalt einer Frau, die sich über ihn beugte. Einen Augenblick lang war er überzeugt, sie wäre es, doch dann sah er, daß es sich um eine FORCE-Ärztin handelte.
»Bin ich tot?« flüsterte er.
»Sie waren es. Sie sind an Bord der HS Merrick. Sie haben verschiedene Wiederbelebungen und Erneuerungen durchgemacht, können sich aber wegen des Fugenkaters wahrscheinlich nicht daran erinnern. Wir sind bereit für den nächsten Schritt der Physiotherapie. Glauben Sie, Sie können gehen?«
Kassad bedeckte die Augen mit einem Arm. Trotz der Desorientierung nach der Fuge erinnerte er sich jetzt an die schmerzhaften Therapiesitzungen, die endlosen Stunden in den RNS-Virusbädern und die Operationen. Am deutlichsten an die Operationen. »Wie ist unser Kurs?« fragte er, ließ die Augen dabei aber abgeschirmt. »Ich habe vergessen, wie wir ins Netz zurückreisen.«
Die Ärztin lächelte, als wäre das eine Frage, die er jedesmal gestellt hatte, wenn er aus der Fuge erwachte. Vielleicht hatte er es sogar. »Wir reisen über Hyperion und Garden«, sagte sie. »Wir gehen gerade in den Orbit über ...«
Die Frau wurde vom Lärm des Endes der Welt unterbrochen – riesige Posaunen bliesen, Metall riß, Furien kreischten. Kassad rollte sich vom Bett und wickelte die Matratze um sich, während er in der Schwerkraft von einem Sechstel ge fiel. Orkanartige Winde zerrten ihn über das Deck und wirbelten Krüge, Tabletts, Schlafanzüge, Bücher, Menschen, Metallinstrumente und zahllose andere Gegenstände an ihm vorbei. Männer und Frauen schrien, ihre Stimmen schwollen an zu einem schrillen Falsett, während die Luft aus der Station entwich. Kassad spürte, wie die Matratze gegen die Wand prallte; er sah zwischen geballten Fäusten hindurch.
Einen Meter von ihm entfernt versuchte eine fußballgroße Spinne mit wild zuckenden Beinen sich durch einen Riß zu zwängen, der sich plötzlich in dem Schott auf getan hatte. Die tentakelartigen Beine des Dings schienen nach Papier und anderen Trümmern zu greifen, die herumflogen. Die Spinne drehte sich und Kassad erkannte, daß es der Kopf der Ärztin war; sie war bei der Explosion enthauptet worden. Ihr langes Haar wirbelte Kassad ins Gesicht. Dann wurde der Riß so breit wie eine Faust und der Kopf wurde hinausgesaugt.
Kassad zog sich nach oben, als der Spierarm aufhörte, sich zu drehen, und es kein ›Oben‹ mehr gab. Die einzigen Kräfte waren nun der orkanartige Wind, der immer noch alles in der Station in Richtung der Risse und Sprünge im Schott fegte, und das übelkeiterregende Schlingern und Torkeln des Schiffes. Kassad schwamm gegen das alles an und zog sich zur Tür zum Korridor des Spierarms, wobei er jeden Halt ausnützte, der sich bot und sich die letzten fünf Meter freistrampelte. Ein Metalltablett traf ihn über dem Auge, ein Leichnam mit blutenden Augen riß ihn um ein Haar wieder in die Station zurück. Das luftdichte Notfallschott prallte nutzlos gegen einen toten Marine im Raumanzug, dessen Körper verhinderte, daß der Mechanismus einrasten konnte. Kassad rollte sich in den Schacht des Spierarms und zog den Leichnam mit sich. Die Tür ging hinter ihm zu, aber in dem Schacht war nicht mehr Luft, als in der Station gewesen war. Irgendwo wurde das Plärren einer Sirene dünner, bis es nicht mehr zu hören war.
Kassad schrie ebenfalls und versuchte, den Druck zu mildern, damit seine Lungen und Trommelfelle nicht platzten. Es entwich immer noch Luft aus dem Spierarm; er und der Tote wurden die hundertdreißig Meter zum Hauptkörper des Schiffes gezogen. Er und der tote Marine tanzten wie in einem grausamen Walzer den Spierschacht entlang.
Kassad brauchte zwanzig Sekunden,
Weitere Kostenlose Bücher