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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Als die abkühlende Luft in die Risse und Höhlen des Plateaus eindrang und die warme Luft himmelwärts rauschte und dabei Blätter, Zweige und Nebel wie ein vertikaler Sog nach oben riss, ertönte ein Laut aus der Kluft, als würde der Kontinent selbst mit den Stimmen von Felsriesen rufen, mit gigantischen Bambusflöten, mit Kirchenorgeln so groß wie Paläste, deren kristallklare Noten vom schrillsten Sopran bis zum tiefsten Bass reichten. Ich spekulierte über Windvektoren gegen die gerillten Felswände, über Höhlen tief, tief unten, von denen bodenlose Risse in die reglose Rinde verliefen, und über die Illusion menschlicher Stimmen, die zufällige Harmonien erzeugen können. Aber letztendlich ließ ich die Spekulationen sein und hörte einfach nur zu, wie die Kluft der Sonne ihr Abschiedslied sang.
    Ich ging gerade zu unserem Zelt und dem Kreis biolumineszenten Laternenlichts zurück, als die erste Salve Meteorschauer leuchtend über den Himmel zog und am südlichen und westlichen Horizont die fernen Explosionen der Flammenwälder grollten wie Geschützfeuer eines urzeitlichen Krieges auf der Alten Erde in Prä-Hegira-Zeiten.
    Im Zelt hörte ich die weitreichenden Komlogfrequenzen ab, bekam aber nur Statik herein. Ich vermute, selbst wenn die primitiven Komsats, die die Fiberplastikplantagen bedienen, so weit nach Osten senden würden, müsste alles bis auf die gebündeltsten Laser- oder Fatlinestrahlen durch die Berge oder die Teslaaktivität maskiert werden. Auf Pacem trugen die wenigstens
von uns im Kloster persönliche Komlogs bei oder in sich, aber die Datensphäre war stets präsent, falls wir uns einklinken wollten. Hier gibt es keine Wahl.
    Ich sitze da und lausche, wie die letzten Töne im Canyon verklingen, sehe zu, wie der Himmel gleichzeitig dunkler wird und leuchtet, lächle über Tuks Schnarchen im Schlafsack vor dem Zelt und denke: Wenn dies das Exil ist, so sei es.
     
    TAG 88:
    Tuk ist tot. Ermordet.
    Ich fand seine Leiche, als ich bei Sonnenaufgang aus dem Zelt kam. Er hatte draußen geschlafen, nicht mehr als vier Meter von mir entfernt. Er hatte gesagt, er wolle unter den Sternen schlafen.
    Die Mörder haben ihm im Schlaf die Kehle durchgeschnitten. Ich habe keinen Schrei gehört. Aber ich habe geträumt: Träume von Semfa, die mich während meiner Krankheit gepflegt hat. Träume von kalten Händen, die mich an Hals und Schultern berührten und das Kruzifix betasteten, das ich seit meiner Kindheit trage. Ich stand über Tuks Leichnam und sah auf den breiten, dunklen Kreis hinab, wo sein Blut in den gleichgültigen Erdboden Hyperions gesickert war, und erschauerte bei dem Gedanken, dass mein Traum mehr als ein Traum gewesen war – dass mich in der Nacht tatsächlich Hände berührt hatten.
    Ich muss gestehen, ich habe wie ein ängstlicher alter Narr reagiert, nicht wie ein Priester. Ich habe die Letzte Ölung durchgeführt, doch dann überkam mich Panik und ich ließ den Leichnam meines unglücklichen Führers liegen, suchte verzweifelt in den Vorräten nach einer Waffe und nahm die Machete, die ich im Regenwald benutzt hatte, und einen Niedervoltstrahler, mit dem ich Kleinwild hatte jagen wollen. Ob ich die Waffen gegen einen Menschen eingesetzt hätte,
und sei es, um mein eigenes Leben zu retten, weiß ich nicht. Aber in meiner Panik trug ich die Machete, den Strahler und das Energiefernglas zu einem hohen Felsen bei der Kluft und suchte die Gegend nach einer Spur der Mörder ab. Nichts regte sich, abgesehen von den winzigen Baumlebewesen und Sommerfäden, die wir gestern zwischen den Bäumen hatten schweben sehen. Der Wald selbst wirkte unnatürlich dicht und dunkel. Die Kluft bot im Nordosten Hunderte von Terrassen, Simse und Felsbalkone, wo sich ganze Heerscharen Banditen hätten verstecken können – eine Armee hätte dort in den Felsrissen und dem ewigen Nebel Unterschlupf finden können.
    Nach dreißig Minuten vergeblicher Wache und närrischer Feigheit kehrte ich zum Lager zurück und bereitete Tuks Leichnam zum Begräbnis vor. Ich brauchte mehr als zwei Stunden, bis ich im steinigen Boden des Plateaus ein Grab ausgehoben hatte. Als ich es zugeschüttet hatte und der offizielle Gottesdienst vorbei war, fiel mir nichts Persönliches über die derbe, komische kleine Person ein, die mein Führer gewesen war. »Herr, erbarme dich seiner«, sagte ich zuletzt und ekelte mich vor meiner eigenen Scheinheiligkeit und der Gewissheit in meinem Herzen, dass ich die Worte einzig und allein

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