Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
nichts heraus.
    Edouard, ich brachte nichts heraus! Ich bin so leer wie die gefälschten Sarkophage, die du und ich zu Dutzenden aus dem sterilen Wüstensand bei Tarum bel Wadi ausgegraben haben.
    Die Zen-Gnostiker würden sagen, diese Leere sei ein gutes Zeichen; sie bedeute Offenheit für neue Bewusstseinsebenen, neue Einsichten, neue Erfahrungen.
    Merde!
    Meine Leere ist nur: Leere.
     
    TAG 96:
    Ich habe die Bikura gefunden. Besser gesagt, sie haben mich gefunden. Ich werde schreiben, so viel ich kann, bis sie kommen, um mich aus meinem »Schlaf« zu wecken.
    Heute habe ich vier Kilometer nördlich des Lagers detaillierteres Kartografieren vorgenommen, als sich der Nebel in der mittäglichen Wärme hob und mir eine Reihe Terrassen auf meiner Seite der Kluft auffielen, die bisher verborgen gewesen waren. Ich untersuchte diese Terrassen mit meinem Energiefernglas  – eigentlich eine Gruppe von Simsen mit Leitern, Türmen, Ebenen und Büscheln, die sich weit den Überhang hinab erstrecken –, als mir auffiel, dass ich von Menschen gemachte Unterkünfte vor mir sah. Das runde Dutzend Behausungen war primitiv – ungeschlachte Hütten aus aufgeschichteten Chalmawedeln, Steinen und Schwammkrume –, aber ohne jeden Zweifel menschlichen Ursprungs.
    Ich stand unentschlossen da, hatte das Fernglas noch erhoben
und überlegte mir, ob ich zu den zutage gekommenen Hütten hinuntersteigen und die Eingeborenen ansprechen oder wieder in mein Lager zurückkehren sollte, als ich das eiskalte Kribbeln auf dem Rücken verspürte, das einem mit unumstößlicher Gewissheit sagt, man ist nicht mehr allein. Ich ließ das Fernglas sinken und drehte mich langsam um. Die Bikura waren da, mindestens dreißig, und bildeten einen Halbkreis, der mir eine Flucht in den Wald zurück unmöglich machte.
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; möglicherweise nackte Wilde mit grimmigen Mienen und Ketten aus Zähnen. Vielleicht rechnete ich halb mit bärtigen, haarigen Einsiedlern, die Reisende manchmal in den Moshebergen auf Hebron aufspüren. Was immer ich auch erwartet hatte – die Bikura entsprachen nicht diesen Erwartungen.
    Die Menschen, die sich mir so lautlos genähert hatten, waren kleinwüchsig – keiner reichte mir weiter als bis zur Schulter  – und in grob gewebte dunkle Roben gehüllt, die vom Hals bis zu den Zehen reichten. Wenn sie sich bewegten, was einige gerade machten, schienen sie wie Phantome über den unebenen Boden zu gleiten. Aus der Ferne erinnerte mich ihr Äußeres an nichts anderes als einen Schwarm geschrumpfter Jesuiten in einer Enklave des Neuen Vatikan.
    Da musste ich fast kichern, überlegte mir aber, dass diese Reaktion durchaus ein Zeichen zunehmender Panik sein konnte. Die Bikura ließen rein äußerlich keine feindseligen Absichten erkennen, die diese Panik gerechtfertigt hätten; sie trugen keine Waffen, ihre kleinen Hände waren leer. So leer wie ihre Mienen.
    Ihre Physiognomie ist schwer zu beschreiben. Sie sind kahl. Alle. Diese Kahlheit, das Fehlen von Gesichtsbehaarung und die weiten Gewänder, die gerade bis zum Boden fallen, tragen samt und sonders dazu bei, dass es sehr schwer ist, Männer
von Frauen zu unterscheiden. Die Gruppe, der ich mich jetzt gegenübersah – mittlerweile waren es an die fünfzig –, schien ausnahmslos im selben Alter zu sein: irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Standardjahren. Ihre Gesichter waren glatt, und die Haut wies einen gelblichen Farbton auf, der meiner Meinung nach darauf zurückzuführen ist, dass ganze Generationen Spurenelemente in den Chalma und anderen hiesigen Pflanzen zu sich genommen haben.
    Man könnte versucht sein, die runden Gesichter der Bikura als engelsgleich zu beschreiben, bis der Eindruck von Verklärtheit bei eingehender Betrachtung verschwindet und einer anderen Interpretation weichen muss – gelassenen Schwachsinns. Als Priester habe ich genug Zeit auf entlegenen Hinterwelten verbracht, dass ich die Auswirkungen eines uralten genetischen Defekts erkennen konnte, der Down-Syndrom, Mongolismus oder Generationenschiff-Erbe genannt wird. Dies war der allgemeine Eindruck, den die kleinwüchsigen Menschen machten, die sich um mich geschart hatten: Ich wurde von einer stummen, lächelnden Bande kahlköpfiger, zurückgebliebener Kinder begrüßt.
    Ich rief mir ins Gedächtnis, dass dies mit ziemlicher Sicherheit dieselbe Gruppe »lächelnder Kinder« war, die Tuks Kehle durchschnitten hatten, während er schlief, und ihn verbluten

Weitere Kostenlose Bücher