Die indische Erbschaft
Christas Sachen im Korridor. Martha schenkte eine zweite Tasse voll, stellte sie auf ein Tablett und legte zwei ziemlich dünn gestrichene Butterbrote dazu. Sie brachte es doch nicht übers Her£, ihren Wilhelm ohne etwas Warmes und einen Bissen im Magen abfahren zu lassen: „Nimm das Tablett und trag es ins Wohnzimmer hinüber. Klopf an und sag dem Papa, du hättest ihm eine Tasse Kaffee gemacht.“
„Und wenn er nicht auf macht?“
„Er macht auf.“
Er machte die Tür tatsächlich auf und erwiderte sogar Christas Morgengruß. „Bist du fertig, Christa?“
„Ja“, antwortete sie verschüchtert.
„In meinem Reiseplan hat es eine Verschiebung gegeben. Ich kann das Mittagsflugzeug nicht benutzen, sondern muß die Maschine nehmen, die kurz nach zehn in Frankfurt startet. Wir müssen uns also in Frankfurt trennen. Aber Wuttig bringt dich nach Wiesbaden und zu Dr. Froese ins Sanatorium. Ich gebe dir später einen Brief mit. Der Scheck für die ersten vier Wochen liegt drin. Sage Dr. Froese, daß ich ihn aufsuchen werde, wenn ich von London zurückkomme.“
Er sprach laut genug, daß Martha durch die offene Küchentür jedes Wort verstehen konnte. Wenige Minuten später fuhr unten der Wagen vor, und Martha preßte Christa ans Herz. Von Werner und von Charlotte hatte sie sich schon verabschiedet. Werner hatte ihr einen Karton mit Briefpapier und Charlotte hatte ihr Geld geschenkt.
„Werde gesund, mein Herzblatt“, sagte Frau Martha und küßte sie unter Tränen, „und mach dir keine Gedanken wie das hier weitergehen wird. Es renkt sich alles wieder ein, und es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und nun heul nicht, mein Liebling...“
Sie fuhr ihr mit dem Taschentuch, das von ihren eigenen Tränen naß war, über die Augen und küßte sie noch einmal. Im Treppenhaus rief Wilhelm Ströndle nach Christa.
„Ich komme schon!“ antwortete sie und putzte sich die Nase. „Auf Wiedersehen, Mama, und schreib mir oft, ja?“
„Jeden Tag, mein Liebes!“
Unten hatte Heinrich Wuttig den Kofferraum des Wagens geöffnet und verstaute darin das Gepäck, das Wilhelm Ströndle mitgebracht hatte. Im Wagen saß Oskar Vollrath und rauchte seine Morgenzigarre. Er ließ es sich nicht nehmen, seinem Freunde Wilhelm wenigstens ein kurzes Geleit bis zum Geschäft zu geben, wo er sich absetzen ließ. Christa nahm vorn neben Wuttig Platz.
„Von mir aus kann es losgehen“, sagte Wilhelm Ströndle, „ich habe mich von meiner Familie oben verabschiedet.“
„Na, Gott sei Dank!“ murmelte Herr Vollrath, der eine bewegte Abschiedsszene erwartet zu haben schien. „Los, Wuttig!“ Er lehnte sich in die Polster zurück und betrachtete seinen zukünftigen Partner von der Seite: „Gut siehst du aus, Willi, einfach fabelhaft! Telegrafier mir, wenn du Geld brauchst, hörst du? England ist teuer. Und nimm ein gutes Hotel.“
Der Wagen näherte sich dem Geschäftshaus der Firma Kaspar Schellenberg. Oskar Vollrath schob Christa einen großen Karton mit Pralinen über die Schulter: „Damit du unterwegs etwas zu knabbern hast, Christa...“
„Oh, vielen Dank, Herr Vollrath!“
„Und da ist noch ein Magentröster für dich, Wilhelm — aber spuck mir den guten Cognac nicht in die Tüte, alter Junge — und mach’s gut!“
Er schüttelte Wilhelm Ströndle die Hand und klopfte dem Chauffeur mit dem Knöchel des Mittelfingers auf die Schulter: „Liefern Sie das kleine Fräulein gut im Sanatorium Froese ab, Wuttig. Und lassen Sie sich bei der Heimfahrt Zeit, ich brauche Sie heute nicht mehr.“
„Jawohl, Herr Vollrath!“
Vollrath hob zwei Finger an den Hutrand. Der Wagen zog fast geräuschlos ab. Bald lag die Stadt hinter ihnen.
Wilhelm Ströndle lehnte sich zurück und klopfte eine Zigarette auf dem Daumennagel ab.
„Feuer, Wuttig!“
Wuttig drückte auf den Knopf und reichte Wilhelm Ströndle die glühende Spirale diensteifrig nach hinten.
Wilhelm Ströndle lehnte sich in die Polster.
Nach einiger Zeit seufzte er befriedigt auf und kurbelte das Seitenfenster herunter. Die Luft strömte frisch wie Champagner herein, und er sog sie mit tiefen Zügen in die Lungen. Nein, noch war er nicht alt! Fünfzehn oder sogar zwanzig Jahre standen ihm noch bevor, Jahre des Genusses, die sich verdoppeln und verdreifachen ließen, denn die Welt bot alles, wenn man nur zahlen konnte. Und er war bereit zu zahlen und um den Preis nicht zu feilschen.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und berührte Christas Schulter:
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