Die Insel der Orchideen
Asien nach langen Debatten über Frachtgebühren und Nützlichkeit endlich zusammengestellt hatten, war dieses von Johanna und Leah heißgeliebte Kinderspielzeug nicht dabei gewesen. Sie drückte das zerkratzte Pferdchen gerührt gegen die Brust, dann stellte sie es neben die Uhr.
Die kurze Dämmerung hatte unbemerkt eingesetzt. Johanna unterbrach ihre Arbeit erst, als der Diener, ein Chinese von Ende zwanzig, im ganzen Haus die Argand-Lampen entzündete. Sie bedankte sich, woraufhin er sich höflich verbeugte und in das Küchenhaus zurückzog, in dem sich auch zwei kleine Kammern für die Bediensteten befanden. Er schien ebenso zum Inventar des Bungalows zu zählen wie die Möbel, denn der Vermieter hatte ihn mit keinem Wort erwähnt. Trotzdem stand er seit heute Morgen bereit und ging Johanna unaufdringlich und schweigsam zur Hand. Sie schalt sich, bisher nicht einmal seinen Namen in Erfahrung gebracht zu haben. Morgen würde sie vieles mit ihm besprechen müssen. Hoffentlich beherrschte er ein wenig Englisch, andernfalls würde sich die Haushaltsführung schwierig gestalten.
Johanna schickte sich gerade an, ihr geliebtes Nähtischchen, ein graziles kleines Möbel mit Intarsien in der Form von Füllhörnern und Blumenkränzen, in ihr Zimmer im ersten Stock zu tragen, als es stürmisch an die Haustür klopfte. Sie stellte das Tischchen vor der Treppe ab und öffnete.
»Guten Abend, verehrte Nachbarin! Ich komme doch nicht ungelegen?«
Verblüfft trat Johanna einen Schritt zurück. Sie hatte Leah oder ihren Vater erwartet, der am späten Nachmittag eine Verabredung mit Reverend Keasberry wahrgenommen hatte, nicht jedoch diese ihr unbekannte, üppige junge Engländerin, die mit der Gewalt eines Taifuns ins Haus wirbelte.
»Überrascht, Liebes? Das hatte ich beabsichtigt. Hier, halten Sie.« Sie drückte Johanna ein mit einem Tuch abgedecktes flaches Gefäß in die Hand. Es war warm, und ein köstlicher süßer Duft stieg daraus empor. Bevor sich Johanna bedanken konnte, plapperte die Besucherin schon weiter: »Zum Einstand habe ich Ihnen einen richtig feinen englischen Apple Pie mitgebracht. Gut, es ist kein Stückchen Apfel darin, in dieser gottverdammten, fantastischen Weltecke gedeihen unsere guten alten Äpfel ja nicht. Wo war ich stehen geblieben? Ach so, der Kuchen. Man nehme Guaven oder Ananas statt der Äpfel, Palmzucker, Zimt, Muskat und importiertes Weizenmehl und fertig. Schmeckt ganz prima, wenn auch kein bisschen wie Apple Pie, doch wen interessiert das schon? Aber Schätzchen, was ist denn das Entzückendes?« Mit einem begeisterten Ausruf steuerte die redselige Dame auf Johannas Nähtischchen zu und begutachtete es von allen Seiten. »Sehr hübsch!«, urteilte sie und ließ ihren wachen Blick durch die kleine Halle und den angrenzenden Salon streifen.
Johanna nutzte die kurze Atempause und hieß den Überraschungsgast willkommen.
»Oh, oh, meine gute Kinderstube. Vor lauter Aufregung habe ich es versäumt, mich vorzustellen. Mrs Andrew Robinson von gegenüber. Also, eigentlich heiße ich natürlich nicht Andrew, sondern Mercy. Sie haben recht gehört, Mercy wie in ›hab Erbarmen, Mercy, und lass auch mal die anderen zu Wort kommen‹. Sie sehen, meine Eltern verfügten über die Gabe der Hellsichtigkeit.« Sie hob theatralisch die Hände. »Und wenn Sie mir gegen meinen trockenen Mund einen Tee anbieten, bekommen Sie die Gelegenheit, auch mal etwas zu sagen.« Ein schelmisches, ungemein einnehmendes Lächeln huschte über das weiche Gesicht von Mercy Robinson.
Johanna mochte sie auf Anhieb. Sie dirigierte Mrs Robinson in den alles andere als präsentablen Salon. Ihr Gespür sagte ihr, dass die quirlige Nachbarin sich nicht daran stören würde. Tatsächlich hob Mercy Robinson ohne Umstände einen Bücherstapel von einem der Stühle, ließ sich nieder und musterte Johanna ungeniert aus riesigen blauen Puppenaugen.
»Hübsch sind Sie. Ich mag Ihre Locken. Und Ihre schlanke Taille«, fügte sie mit einem übertriebenen Seufzer hinzu.
»Vielen Dank für das Kompliment, Mrs Robinson.«
»Warum so steif, Liebste? Nennen Sie mich beim Vornamen, bitte. Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn. Achtzehneinhalb«, fügte Johanna hinzu. »Und ich bin verlobt.« Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, in den Augen der anderen als erwachsene Frau zu gelten.
»Und ich bin zweiundzwanzig drei fünftel und verheiratet. Das passt doch wunderbar! Apropos wunderbar. Entschuldigen Sie meine Offenheit: Ihr Kleid steht
Weitere Kostenlose Bücher