Die Insel der Orchideen
Ihnen überhaupt nicht. Um ehrlich zu sein, es ist furchtbar hässlich. Wir müssen baldmöglichst etwas dagegen unternehmen.«
Johanna sah verlegen an sich hinunter. Eigentlich fand sie an dem einfachen Kleid aus indigoblauer indischer Baumwolle nichts auszusetzen. Es war leicht und dem Klima angemessen, doch neben der in ein extravagantes, weiß und himmelblau gestreiftes Krinolinenkleid gewandeten Mercy wirkte sie wie eine Klosterschülerin. Um das unerfreuliche Thema zu beenden, erhob sie sich und sagte: »Entschuldigen Sie, Mercy. Ich möchte dem Diener Bescheid geben, uns einen Tee zu kochen.«
»Lim? Sie haben ihn übernommen?« Mercy hob die Stimme und rief nach dem Diener. Binnen eines Augenblicks erschien er in der Tür. »Mach uns einen Tee, Lim. Und pass auf, dass er nicht zu schwach wird.«
Lim verbeugte sich tief und verschwand lautlos. Bis er den Tee brachte, war es Mercy Robinson gelungen, alles Wissenswerte über die Familie Uhldorff zu erfragen. Johanna gab bereitwillig Antwort. Warum auch nicht, schließlich hatten sie keine Geheimnisse.
Erneut ging die Tür, und Leah betrat den Salon, ihre Zeichenmappe unter den einen Arm geklemmt, den anderen hinterm Rücken versteckt. Johanna stellte Mercy Robinson und ihre Schwester einander vor. Mit einem Nicken grüßte Leah die Besucherin und wollte sich zurückziehen, doch Johanna hielt sie auf. »Dürfen wir deine Zeichnungen sehen?«
»Muss das sein?« Erstaunt bemerkte Johanna, dass sich Leah wand. Sonst nie um eine Antwort verlegen, wirkte sie, als würde sie am liebsten aus dem Raum flüchten.
»Zier dich nicht, Kleine«, polterte Mercy jovial, »zeig uns, was du hinter dem Rücken versteckt hast!«
Bei dem Wort »Kleine« blitzte es gefährlich in Leahs Augen auf. Selbst ihre Eltern hüteten sich, sie als »Kleine« zu bezeichnen, seit beim letzten Mal, es mochte zwei Jahre her sein, eine kostbare Vase zu Bruch gegangen war. Johanna wollte das Schlimmste verhindern, doch sie reagierte zu spät. Leah hatte bereits den Raum durchmessen und baute sich direkt vor Mercy Robinson auf. »Sie wollen wirklich sehen, was sich hinter meinem Rücken verbirgt?«, fragte sie zuckersüß und mit einem gezierten Augenaufschlag. Mit quälender Langsamkeit zog sie den Arm hervor, um ihn dann mit einer schnellen Bewegung direkt vor das Gesicht der Besucherin zu halten.
Mrs Robinson schrie entsetzt auf. Um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das Ding auf Leahs Arm zu bringen, stieß sie den Stuhl zurück, verhedderte sich dabei mit ihrem ausladenden Rock, kam ins Taumeln und konnte sich gerade noch fangen, indem sie sich am Sekretär festhielt. Die kostbare Uhr schwankte, das alte Spielzeugpferdchen landete auf dem Boden.
Für einen langen Moment verharrten alle drei wie versteinert.
»Das wollte ich nicht. Entschuldigen Sie«, sagte Leah schließlich in die Stille.
Johanna hob das Pferdchen auf. Es hatte den Sturz beinahe unbeschadet überstanden, lediglich der Schwanz war abgebrochen. Mercy streckte die Hand danach aus. »Geben Sie es mir. Mein indischer Gärtner hat ein Händchen für Reparaturen aller Art.« Sie atmete tief durch und wandte sich an Leah. »Entschuldigung angenommen. Und jetzt sag mir, was um Himmels willen ist das?«
Leah streckte ihnen erneut den Arm entgegen, allerdings etwas weniger ungestüm als zuvor. An ihrem Unterarm hatte sich ein Insekt festgekrallt. »Ein Myriapoda.« Sie machte einen Schritt auf Mercy zu, doch die winkte ab.
»Bleib, wo du bist. Ich sehe ihn auch so.«
Johanna dagegen sah sich das dunkelglänzende Tier aus der Nähe an. Die unzähligen Beinchen kennzeichneten es tatsächlich als Tausendfüßler, nur war er hundert Mal größer als alle, die Leah je in Hamburg angeschleppt hatte. Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf den harten, glatten Körper. Sofort hob der kolossale Tausendfüßler den Kopf und begann loszulaufen, direkt auf Leahs Armausschnitt zu. Leah hielt ihn mit der linken Hand auf und ließ ihn auf den anderen Arm krabbeln.
Johanna lachte auf. »Sind hier alle Insekten so riesenhaft? Dann kannst du dein Vergrößerungsglas einmotten.«
Leah zuckte die Schultern. »Ich habe schon Spinnen entdeckt, die größer waren als meine Hand. Und Käfer, so lang.« Sie spreizte Daumen und Zeigefinger weit auseinander.
»Puh.« Mercy schüttelte sich. »Ihr beide seid aber unempfindlich. Die meisten weißen Frauen in Singapur hätten Riechsalz benötigt.«
Leah zog sich bald in ihr Zimmer
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