Die Insel der Orchideen
Sätze wechseln können, doch jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit bot, hatten sich ihre Hände kurz gefunden, ihre Blicke, einmal sogar ihre Münder. Sie hatten mit den Gästen geplaudert und gescherzt, und Johanna hatte geahnt, was Friedrich dachte: Ein ganzes gemeinsames Leben lag vor ihnen, was scherte sie dieser eine Tag, der noch dazu so wunderschön war! Sie schloss die Augen und lehnte sich in dem in einer dunklen Ecke der Veranda stehenden Liegestuhl zurück. Kaum eine Minute später schlenderten Mrs Paterson und ein Mann, dessen Stimme sie nicht erkannte, herbei und blieben direkt unter ihrem Ruheplatz stehen. Ein Streichholz wurde angerissen, dann zog der würzige Geruch einer Zigarre herauf.
»Eine schönes Fest«, bemerkte der Mann.
»Ja, und so romantisch. Johanna Uhldorff hat recht daran getan, ihre Verlobung mit diesem ungehobelten Klotz Bowie zu lösen. Der junge von Trebow passt viel besser zu ihr. Und so zielstrebig ist er! Er wird es zu etwas bringen.«
»Das vermute ich auch, vor allem, wenn Farnell ihm Schützenhilfe leistet. Famoser Mann.«
Johanna hörte mit Erleichterung zu. Bis heute war sie sich nicht sicher gewesen, wie die Gesellschaft ihr skandalträchtiges Verhalten Bowie gegenüber bewertete. Allerdings fand sie Mrs Patersons Einschätzung von Ross Bowie unfair.
»Das zweite Mädchen ist allerdings schwer tragbar.«
Johanna horchte auf. Damit konnte nur Leah gemeint sein.
»Sie weiß einfach nicht, was sich gehört«, fuhr Mrs Paterson fort. »Mrs Uhldorff kommt nicht mit ihr zurecht. Man kann nur hoffen, dass von Trebow in Zukunft für Zucht sorgt. Es ist wirklich eine Schande. Das Mädchen hat keinen Anstand. Chinesische Mörder haben ihren Vater auf dem Gewissen, und was tut sie?«
Johanna rückte in ihrem Stuhl nach vorn.
»Sie tanzt den ganzen Abend mit dem jungen Chee«, zeterte Mrs Paterson. »Dabei hat sie so viele geeignete Verehrer.«
Die beiden wurden zu einem Tisch gewunken und entfernten sich. Johanna sah ihnen nachdenklich hinterher. Leah und Chee Boon Lee? Sie hatte Leahs seltsames Verhalten vom Nachmittag auf den prunkvollen Auftritt der Familie geschoben, doch jetzt sah sie es in neuem Licht. Fast hatte es gewirkt, als kenne Leah die Familie – oder zumindest eines ihrer Mitglieder. Boon Lee? Doch woher? Es war unmöglich.
Friedrich riss sie aus ihren Überlegungen. »Meine Frau sitzt hier im Dunkeln? Willst du etwa vor mir flüchten?«
Johanna sprang auf. Ihre Müdigkeit war wie fortgeblasen. »Niemals!«, rief sie. »Ich will mit dir tanzen, bis der Morgen graut.«
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TEIL II
1859 bis 1862
8
April 1859 , ein Jahr später
D eine Tarnung hat dir nichts genutzt«, murmelte Leah, während sie ihre Hand zwischen die Äste eines dichtbelaubten Busches schob und mit spitzen Fingern zugriff. Das Wandelnde Blatt zappelte, versuchte zu flüchten, aber schon hatte Leah es in einem Glasgefäß verstaut. Nach kurzem Zögern tropfte sie etwas Äther auf ein Tuch, schob es blitzschnell in das Glas und verkorkte es. Dann ließ sie sich trotz ihres Rockes mit gekreuzten Beinen auf dem Waldboden nieder. Der Todeskampf der Gespenstschrecke währte nur kurz, doch Leah wartete noch eine Viertelstunde, um sicherzugehen. Ein wenig dauerte sie das schöne Tier, das sie gerade auf dem Altar ihrer Wissbegierde opferte. Sie tröstete sich damit, dass es wahrscheinlich ohnehin früher oder später einem Vogel oder sonstigen Fressfeind zum Opfer gefallen wäre.
Sie kramte ein kleines Brett, dünne Nadeln und Pinzetten aus ihrer Tasche und steckte das Tier konzentriert fest, peinlich darauf bedacht, die Flügel und Glieder beim Spreizen nicht zu verletzen. Normalerweise hätte sie diese Arbeit in aller Ruhe in ihrem Zimmer verrichtet, doch sie würde erst in ein paar Stunden wieder zu Hause sein. Bis dahin hätte die Totenstarre eingesetzt und eine ordentliche Präparation verhindert. Nach vollendetem Werk saß sie noch lange in die Betrachtung des Tieres versunken da und sinnierte über seine außerordentliche Form. Abdomen, Thorax, Kopf und sogar die Gliedmaßen waren leuchtend grün und ähnlich geformt wie die Blätter jenes Busches, in dem Leah es gerade gefangen hatte. Sie hob vorsichtig eines der Beine an. Die braunen Ränder der blattförmigen Auswüchse lieferten eine überzeugende Imitation der trockenen Ränder von echten Blättern. Der gezackte Umriss diente dazu, dass das Wandelnde Blatt noch besser mit dem Hintergrund verschmelzen konnte.
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