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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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hundertsten Mal grübelte Leah darüber nach, wie es zu dieser fantastischen Anpassung gekommen war. Dass das Insekt nicht aus eigenem Willen seine Form herbeigeführt hatte, lag auf der Hand, und an Gottes allumfassenden Plan glaubte sie in diesem Fall nicht. Sieben Tage waren selbst für den Allmächtigen zu wenig, sich um jedes klitzekleine Detail zu kümmern. Ihr Puls beschleunigte sich. Ihre Mutter hatte schon weit harmlosere Ideen ihrer Tochter als Blasphemie bezeichnet. Es wurde Zeit, dass Alfred Russel Wallace seine Forschungsreisen im Archipel unterbrach und Singapur einen erneuten Besuch abstattete. Er war der Einzige, mit dem sie über gewagte Thesen diskutieren konnte, ohne dass man ihr über den Mund fuhr. Selbst Boon Lee winkte ab, wenn sie mit ihm über ihre Beobachtungen sprechen wollte. Für ihn waren Insekten nichts anderes als krabbelnde Ärgernisse. Seine Leidenschaft galt den Zahlen; er war ein geborener Händler.
    Leah verstaute das präparierte Insekt und die Werkzeuge und machte sich zum Gehen bereit, als ihr geschulter Blick einige dunkelbraune, unregelmäßig geformte Kügelchen auf dem Boden entdeckte: die Eier des Wandelnden Blattes. Akribisch durchsiebte sie die Erde und sammelte etwa zwei Dutzend davon ein. Es würde ihren Gedankenspielen neue Nahrung geben, die Entwicklung dieser Tiere von Anfang an zu beobachten.
    Kurz darauf trat sie aus dem Waldstück im Norden des Government Hill auf die River Valley Road und wanderte beschwingten Schrittes stadtauswärts. Nach wenigen Minuten erreichte sie ein überwuchertes Grundstück an einem namenlosen Seitenweg. Nachdem sie sicher war, von niemandem beobachtet zu werden, schlüpfte sie durch die Hecke. Aufgescheuchtes Getier raschelte davon, als sich Leah auf einem kaum sichtbaren Pfad durch die Büsche zwängte, bis sie schließlich vor einem vergessenen Haus stand. Kletterpflanzen und wilde Orchideen überrankten es, das ehemals regendichte Dach aus den verflochtenen Blättern der Attap-Palme war fadenscheinig und der Boden verrottet, doch noch gab es trockene Winkel. Leah zog drinnen ein Päckchen aus seinem Versteck, wickelte das Wachstuch ab und schüttelte die Kulikleidung aus. Sie sah mittlerweile arg ramponiert aus, doch das machte ihre Maskerade umso glaubwürdiger. Wenig später lief sie mit tief ins Gesicht gezogenem Strohhut und wippendem Zopf in Richtung des chinesischen Viertels. Sie wollte bei Apotheker Ah, jenem uralten Chinesen, den sie damals mit ihrem Vater zum ersten Mal besucht hatte, chinesischen Ginseng für Onkel Koh kaufen. Ihr väterlicher Freund schwor auf die stärkende Kraft der Wurzel, konnte sich die kostspielige Medizin aber nur selten erlauben.
    In Gedanken versunken erreichte sie die North Bridge Road, als der Fluch eines Kutschers sie zusammenzucken ließ. Im letzten Moment sprang sie beiseite und ließ das Gefährt passieren. Sie erschrak zutiefst: In der Kutsche saß Johanna, wohl auf dem Weg zu Friedrichs Kontor am Boat Quai. Leahs Blut pochte in ihren Schläfen. Es war noch einmal gutgegangen, doch sie musste in Zukunft wachsamer sein.
    * * *
    Johannas Herz machte einen Satz, als der Kutscher aufschrie und sein Pferd heftig zurückriss. Beinahe hätten sie einen unachtsamen Kuli überfahren. Aber mehr noch als über den im letzten Moment vermiedenen Unfall erschrak sie über etwas anderes. Der Kuli war sofort zurückgesprungen und hatte sich abgewandt, aber für einen Wimpernschlag hatte sie seine Züge gesehen. Leah?
    Sie streckte den Kopf aus der Kutsche und blickte zurück. Da stand er, wandte ihnen noch immer den Rücken zu. Ein schmächtiger Kerl, kaum zu unterscheiden von Tausenden anderen, und doch war da etwas, das ihr bekannt vorkam. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Noch immer fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen den Rücken des kleinen Mannes. Nun drehte er sich um und setzte seinen Weg fort, doch er hielt den Kopf gesenkt, so dass der Strohhut sein Gesicht vollständig verbarg. Johanna hielt vor Anspannung den Atem an. Der Kuli krümmte den Rücken, seine ganze Körperhaltung strahlte Demut aus. Erleichtert stieß sie die Luft aus. Sie hatte sich geirrt. Dieser bemitleidenswerte, abgerissene Mensch war nie und nimmer ihre stolze Schwester.
    Eine winzig kleine Faust reckte sich ihr entgegen, ein lustiges Gurgeln drang zu ihr herauf. Johanna zog den Kopf zurück. Mit einem glücklichen Lachen widmete sie sich dem Säugling auf ihrem Schoß. Die verstörende Begegnung war

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