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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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halben Stunde lautstark hinter der geschlossenen Tür rumorte. Leah kam ihren Pflichten in Sophie Cookes Schule nach und unterrichtete die Waisenmädchen im Zeichnen und in Naturkunde, Friedrich war im Kontor, die Mutter beim Bibelkreis und Lim auf dem Markt.
    Ein lauter Knall wischte Johannas Bedenken beiseite. Sie schloss auf und trat in Leahs Zimmer.
    Helle Lichtstreifen fielen durch die Lamellen der geschlossenen Fensterläden und zerschnitten das Dämmerlicht im Inneren. Der Raum war ein einziges Durcheinander. In seiner Unzufriedenheit über das Alleinsein hatte das Langurenäffchen Leahs Regale ausgeräumt und nicht einmal vor ihrem Schrank haltgemacht. Schnell schloss Johanna die Tür hinter sich, damit das Äffchen nicht entweichen konnte, doch die Vorsicht erwies sich als überflüssig. Das Tier beruhigte sich, kletterte an ihr hoch und liebkoste ihr Gesicht. Sie streichelte belustigt über das weiche, silbrig schimmernde Fell. Im Gegensatz zu Friedrich und der Mutter hatte sie den kleinen Gesellen sofort in ihr Herz geschlossen, und es war ihr auch gleichgültig, woher Leah ihn hatte; sie würde es ohnehin nie erfahren. Mit dem zufrieden schnatternden Tier auf der Schulter besah sie das Malheur. Kleidung und Malutensilien lagen kreuz und quer im Zimmer verteilt, doch wirklichen Schaden hatten nur einige kleine Holzkisten genommen, die der handwerklich geschickte Lim für Leahs Insektenpräparate anfertigte. Aus dem zersplitterten Holz ragten grünschimmernde Käferflügel und wie Blätter oder Äste geformte Fangschrecken. Mit fasziniertem Ekel schaute Johanna auf eine handtellergroße Spinne direkt vor ihren Füßen. Das Tier war tot, aber sie machte sich keine Illusionen, dass sie nur ihren eigenen Garten etwas genauer inspizieren musste, um einen quicklebendigen Verwandten des gelb-schwarzen Ungeheuers zu finden.
    »Was hast du bloß angestellt?«, schimpfte sie mit dem Äffchen, das mittlerweile in ihren Haaren nach glücklicherweise nicht vorhandenen Läusen suchte. Sie ließ es gewähren und überlegte, ob sie aufräumen sollte. Einerseits würde sie Leah gern den Gefallen tun, scheute aber davor zurück, weil die Schwester sie dafür hassen würde, ihr Zimmer überhaupt betreten zu haben. Resigniert pflückte sie sich den Affen vom Kopf und setzte ihn auf den Schrank. Es war besser, sie rührte nichts an. Sie wollte gerade das Zimmer verlassen, als ihr Blick auf ein buntbemaltes Stück Papier fiel, das unter dem Bett hervorragte. Johanna interessierte sich sehr für Leahs Zeichnungen, und sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine von solcher Farbenpracht gesehen zu haben. Neugierig kniete sie sich neben das Bett und zog das Blatt hervor. Darunter verbarg sich ein ganzer Stapel Zeichnungen. Johanna nahm ihn auf und setzte sich damit aufs Bett.
    Mit wachsendem Unbehagen blätterte sie durch den Stapel. Sie verstand genug von Kunst, um die hervorragende Qualität der Aquarelle zu erkennen. Durch beharrliches Üben war Leahs gottgegebenes Talent zu wahrer Meisterschaft gereift. Die Motive jedoch irritierten sie. Wann hatte Leah all jene Chinesen und Inder portraitieren können, wo waren die Szenen mit den Handwerkern, Gauklern, Wasserträgern, ja selbst mit grellgeschminkten leichten Mädchen entstanden? Ihres Wissens nach war Leah nur einmal mit dem Vater im chinesischen Viertel gewesen, doch reichten die damals gesammelten Eindrücke tatsächlich, um Dutzende und Aberdutzende von Zeichnungen aus dem Gedächtnis anzufertigen? Wohl kaum. Der Beinahezusammenstoß mit dem Kuli kam ihr in den Sinn. Sollte es doch ihre verkleidete Schwester gewesen sein? Johanna hielt die Antwort auf die Frage in den Händen, sie begriff, wo sich Leah während ihrer häufigen Ausflüge herumtrieb: mitten unter den Asiaten. Sie schien gut bekannt zu sein, sonst hätten die Menschen jenseits des Flusses ihr nicht so bereitwillig Einblicke in ihr Leben und ihre Häuser gestattet, wären ihre Mienen auf den Zeichnungen nicht so offen und vertrauensvoll.
    Johanna lachte auf. Vom nächsten Blatt sprang ihr das Äffchen beinahe entgegen, so kraftvoll hatte Leah Feder und Pinsel geführt. Es saß auf der Schulter eines hageren Chinesen in mittleren Jahren. Seine so lebhaft wiedergegebenen Augen schlugen Johanna in den Bann. Dieser Mann musste Leah viel bedeuten, eine Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Hatte er ihr nicht sogar seinen Affen anvertraut? Sie blätterte noch einmal zurück. Ja, auch hier war er abgebildet,

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