Die Insel der roten Erde Roman
»Evan! Kommen Sie doch herein!«
Die Ashbys baten ihn in den Salon.
»Was führt Sie zu uns, Evan?«, fragte Edna gespannt. Hatte er sich ihren Vorschlag noch einmal durch den Kopf gehen lassen?
»Ich habe beschlossen, Ihr Angebot anzunehmen«, sagte Evan langsam.
Es war ihm anzusehen, dass es ihm nicht leicht fiel.
Evan hatte die ganze Nacht wach gelegen. Der Gedanke, von seinem Sohn getrennt zu sein, schmerzte unerträglich, aber er durfte das Leben des Jungen nicht aufs Spiel setzen. Er würde allein zur Farm zurückkehren und seine Töchter nachholen. Das Vieh würde er zurücklassen – er hatte ja nicht einmal für sich selbst ein Dach über dem Kopf. Milos Leben hatte Vorrang vor der Farm oder den Tieren. Jane würde es so wollen, das wusste er.
»Sie tun das Richtige, Evan«, beruhigte Edna ihn.
»Ich wüsste da vielleicht etwas für Sie«, meldete Charlton sich zu Wort.
»Und das wäre?«
»Die Farm nebenan ist frei geworden. Mein Pächter hat sie überraschend aufgegeben. Sie können sie haben, falls Sie interessiert sind. Der Weizen auf den dazugehörigen Feldern ist fast erntereif, und es ist genug Land für Ihr Vieh dabei.«
Evans Miene hellte sich augenblicklich auf. Aus Sarahs Gesicht hingegen wich alle Farbe. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie sollte Tür an Tür mit der echten Amelia wohnen?
»Das ist ja großartig!« Evan strahlte vor Freude. Ein Zuhause für seine Familie zu finden, war eine seiner größten Sorgen gewesen. »Darf ich sie mir ansehen, Charlton?«
»Selbstverständlich.«
Evan erhob sich sofort.
»Lassen Sie den Jungen doch solange bei mir, dann können wir uns schon mal ein bisschen anfreunden«, meinte Edna.
Evan reichte ihr das Kind nach kurzem Zögern.
»Ich werde mit ihm in die Küche gehen. Polly hat heute Morgen Kekse gebacken; die schmecken ihm bestimmt!«
Als Evan und Charlton gegangen waren, folgte Sarah Edna in die Küche. »Tante, glaubst du, er wird die Zuchthäuslerin auch mitbringen?«
Edna überlegte kurz. »Das war die junge Frau, die zusammen mit dir das Schiffsunglück überlebt hat, nicht wahr?«
Sarah nickte.
»Ich denke schon. Sie muss ja ihre restliche Strafe noch verbüßen.« Ihr Mündel wirkte alles andere als begeistert. »Sie wird uns bestimmt nicht stören, Amelia.«
»Wieso hat Evan eigentlich seinen Sohn hierher gebracht? Ich wusste gar nicht, dass ihr befreundet seid.«
»Befreundet ist übertrieben, aber wir kennen uns schon recht lange. Als er jung verheiratet war und wir gerade erst auf die Insel gezogen waren, hat er ganz in unserer Nähe gewohnt. Er macht einen etwas verschrobenen Eindruck, ich weiß, aber unter der rauen Schale steckt ein weicher Kern. Er hat vor einem knappen Jahr seine Frau verloren, kann also jeden Freund brauchen. Charlton und ich haben ihn gestern Nachmittag in der Stadt getroffen. Er kam mit dem Jungen gerade von Dennis Thompson und war ganz außer sich. Da haben wir ihm angeboten, Milo zu uns zu nehmen, während er nach Cape du Couedic zurückkehrt und seine Mädchen holt. Auf diese Weise kann Dennis den Zustand des Jungen überwachen.«
Milo war zwar ein wenig verwirrt von der fremden Umgebung, mampfte aber zufrieden einen Keks. Polly stellte ihm ein Glas Milch hin.
»Ein süßer Fratz, nicht wahr?« Edna lächelte. »Ich freue mich richtig darauf, ihn hier zu haben.«
Sarah erfasste blitzschnell, dass Evan sich nicht in der Stadt aufhielte – und schon gar nicht hierher ziehen würde –, wenn Milo nicht wäre. Würde dem Jungen etwas zustoßen, würde er seine Umzugspläne sicherlich aufgeben.
Sie schaute in Milos dunkle, große Kinderaugen. Nein, sie würde niemals einem unschuldigen Kind etwas antun können, das begriff sie in diesem Moment. Nicht einmal, wenn sie dadurch eine Konfrontation mit der echten Amelia Divine vermeiden könnte. Vielleicht ging es dem Jungen bei Evans Rückkehr ja wieder so prächtig, dass er sich die Sache mit dem Umzug noch einmal überlegte.
Sie seufzte. Möglicherweise machte sie sich unnötig Sorgen, weil Amelia ihr Erinnerungsvermögen ja immer noch nicht wiedererlangt hatte. Aber durfte sie das Risiko eingehen? Nein. Bis die Finnlays mit der echten Amelia eintrafen, musste sie Kingscote verlassen haben.
»Hallo, ihr alle!«, rief Lance, der durch den Hintereingang hereingekommen war.
»Lance! Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«, fragte Edna verwundert.
Sein Anblick ließ Sarahs Herz höher schlagen. Er sah einfach umwerfend aus!
»Ich hab mir heute
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