Die Insel der verlorenen Kinder
lachen.
Es ist so weit. Der Hase hatte gewusst, dass diese Zeit kommen würde. Sie hat anderen von ihm erzählt. Bilder von ihrem gemeinsamen geheimen Ort gemalt. Sie hat den Plüschhasen mit in die Schule genommen und in der Erzählstunde allen gezeigt.
Der Hase ist nicht böse. Nur traurig.
Zum letzten Mal holt er sie im U-Boot ab. Er berührt sie an der Schulter. Und denkt, dass es Dinge gibt, die man durch Gesten nicht ausdrücken kann.
Er wendet sich von ihr ab. Packt das Steuerrad. Er weiß, was zu tun ist. Er hat einen Plan. Und sie vertraut ihm so vollkommen, dass er den leicht ausführen kann.
Wenn alles erledigt ist, werden sie für immer glücklich sein, genau wie in einem echten Märchen.
s?
16. Juni 2006
Um zehn Uhr früh stand Rhonda wieder unter dem klingelnden Papageien-Windspiel und rief nach Laura Lee. Hinter ihr fuhr knatternd ein Motorboot los. Ein Seetaucher schrie – ein langgezogener Ruf, der einem durch Mark und Bein ging. Laura Lee gab keine Antwort.
«Hier ist Rhonda Farr!», schrie Rhonda. «Bist du zu Hause?»
Sie hörte nur ein leises Stöhnen und dann zersplitterndes Glas.
«Ich komme rein», rief Rhonda und schob die unverschlossene Fliegentür auf.
In der Küche war es jetzt sogar noch dreckiger als bei ihrem letzten Besuch. Stapel von schmutzigem Geschirr türmten sich in der Spüle. Fliegen summten. Rhonda ging durch die Küche ins Wohnzimmer, wo Laura Lee, an der Hand blutend, auf dem Boden lag. Auf dem Couchtisch befanden sich die Überreste eines zerbrochenen Longdrink-Glases und sein klebriger Inhalt.
«Alles in Ordnung?», fragte Rhonda, die sich neben die Gestürzte kniete.
«Mir ist nur ein bisschen schwindlig, mein Schatz. Kein Grund zur Sorge. Mein Blutzucker ist zu niedrig, weißt du», erklärte Laura Lee. Rhonda half ihr auf die Beine.
«Ganz ruhig», sagte Rhonda. «Wir gehen jetzt ins Bad, und ich kümmere mich um den Schnitt in deiner Hand.
Rhonda fand Desinfektionsmittel, einen Mullverband und Heftpflaster in der Hausapotheke. Laura Lee hocktezusammengesunken auf der Toilette, während Rhonda den Verband anlegte. Der Schnitt war nicht sehr tief und schien Laura Lee nicht wehzutun.
«Wo ist dein Freund?», fragte Laura Lee.
«Warren? Der ist nicht mein Freund, sondern einfach nur ein Freund.»
«Worauf wartest du eigentlich, Ronnie? Jünger wirst du nicht mehr, verdammt nochmal. Wenn man einen guten Fang machen kann, sollte man zugreifen. Verstehst du mich?»
«Vielleicht solltest du dich hinlegen», schlug Rhonda vor.
«Gute Idee. Aber erst will ich mir noch einmal nachschenken. Was hab ich eigentlich mit meinem Glas angestellt?»
«Wir nehmen ein anderes, okay?»
Rhonda legte Laura Lee mit einem Plastikbecher voll Sangria auf die Couch und deckte sie mit der Häkeldecke zu. «Kann ich dich was fragen?», begann Rhonda. «Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.»
«Wie spannend. Frag nur, mein Schatz.»
«Hattest du ein Verhältnis mit Daniel?»
Laura Lee lächelte. «Wer hat dir denn das erzählt? Na ja, egal, das spielt keine Rolle. Das ist längst vorbei. Und übrigens, ja: Wir haben gerammelt wie die Karnickel.»
Rhonda krümmte sich innerlich.
«Du bist doch nicht etwa schockiert, oder?»
«Nein. Überhaupt nicht. Ich hatte mich nur gefragt, ob du vielleicht weißt, wohin er damals gegangen ist.»
«Schätzchen, wenn ich das gewusst hätte, wäre ich ihmsofort nachgereist. Ich war
entflammt.
Meine Güte, er war ein Wrack. Aber ein verdammt gutaussehendes Wrack.» Laura Lee seufzte tief. «Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist. Er hatte massenhaft Probleme, damals in dem Sommer. Steckte bis über beide Ohren in Schulden. Und er und Clem hatten einen schrecklichen Streit.»
«Worüber denn?»
«Ich weiß nicht, Ronnie. Er hat es mir nicht erzählt. Er war ein gebrochener Mann. Ich glaube, ganz zum Schluss war ich für ihn das Einzige, was er noch hatte. Aber das war offensichtlich nicht genug. Ist das nicht die Geschichte von meinem ganzen verdammten Leben?»
Rhonda fuhr zu Pat zurück, stellte aber fest, dass sie ganz allein Telefonwache schieben würde. Pat und Warren waren nach Burlington gefahren, um dort Flugblätter zu verteilen, und danach würde Pat als Gast an einer regionalen Fernsehshow teilnehmen. Jim arbeitete in der Werkstatt, und ein schmuddeliger Junge namens Carl stand an der Kasse. Rhonda fiel ein, dass Carl derjenige war, der hier an jenem Donnerstag gearbeitet hatte, als jemand Ernie in
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