Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
sie auszogen und in die Wüste von Kolgujew gingen. Vielmehr vermischen sich in den Erzählungen der Nenzen über die Raskolniki auf merkwürdige Weise Mitleid und Unverständnis. Asketen und Einsiedler sind den Menschen der Tundra geistig vollkommen fremd. Jede Art von Abtötung des Fleisches, überhaupt ein gewisser Hang zum Tod, der
besser und reiner
sei als das Leben, sind ihnen, für die alles ringsumher lebendig und beseelt ist, vollkommen unbegreiflich. Unbegreiflich auch ist ihnen dieser Eine Gott, der im Namen des ewigen Lebens den Menschen »verbietet«, rohen Fisch und rohes Fleisch zu essen und sie somit zum Tode verurteilt. Renhalter und Jäger brauchen einen solchen Gott nicht, sie brauchen einen starken, der das Leben liebt, der ihnen zuverlässig Glück und Fülle bringt. Weshalb auch bei seinem zweiten Erscheinen auf Kolgujew Christus ein ganz anderes Antlitz zeigen sollte als beim ersten Mal. Es ist nicht der Jesus, der den Martertod starb, nicht der Erlösergott, nicht das lebendige Wort, das Tat wurde – in solcher Betrachtung ist Er für die Nenzen ganz und gar nicht jenes nachahmenswerte Vorbild, das Er für die Altgläubigen war, die sich wortwörtlich in Seiner Nachfolge sahen. Für die Nenzen ist Christus so etwas wie ein Idol, eine Ikone, ein Symbol des strengen, jeglichem Mutwillen gegenüber unduldsamen russischen Hausgottes.
Die Kapelle wurde kurz nach dem großen, durch eine Vereisung der Insel ausgelösten Herdensterben gebaut. Solche »Vereisungen« kommen hin und wieder vor, im Abstand von mehreren Jahrzehnten, wenn im Frühling nach dem Tauwetter plötzlich noch einmal Frost hereinbricht und die Insel unter einem Eispanzer erstarrt, den die Rene nicht mit ihren Hufen zerhauen können, um ans Rentiermoos zu gelangen. Sie sterben dann zu Tausenden. So etwas muss sich wohl auch um 1880 zugetragen haben. Von der großen Kolgujewer Herde überlebten nur ein paar wenige Tiere, worauf die Mesener Pomoren es für zu kostspielig hielten, auf Kolgujew weiter Rene zu halten. Sie blieben aus, brachten den Nenzen nicht länger Nahrung und Munition im Austausch für Fleisch und Felle. Wenig später brachte die Familie Sumarokow aus Oksino an der Petschora die Insel in ihren Besitz und gab sie bis zur Revolution nicht mehr aus der Hand. Und um die sich rasch wieder vermehrende Herde vor einer ähnlich verheerenden neuerlichen Plage zu schützen, rüsteten die Kaufleute ein Schiff aus, das von den Solowezki-Inseln einen Popen herbeischaffte und alles, was für die Ausstattung einer Kapelle vonnöten war. Der Pope wurde, nachdem er eine kleine Kate mit Vorhalle geweiht hatte, zurückexpediert, Christus aber blieb auf Kolgujew.
Als Beistand der Eigentümer. Als Hüter der Rene. Der vom Taborlicht beschienene Jesus aber, der Jesus in der Wahrheit Seiner Hingabe, Einfachheit und Liebe, blieb hier allen unbekannt. Und das Lämpchen vor Seiner Darstellung ist, selbst wenn es brennte, nicht das Licht und nicht die Erinnerung an das Licht 34 , sondern ein trüb vor sich hin brennendes Opferfett.
Dieser Glaube ist kein lebendiger. In ihm steht Christus bestenfalls ein ganz klein wenig höher als die knorrigen kleinen Tundragötter, die auf heiligen Bergkuppen verbrannt wurden, oder gleicht einfach den Cheche, diesen Geistern jedes Klans, die man zwischen allem Hausrat unter den Fellen von Opfertieren von einem Lagerplatz zum anderen trug. Aber kannst du dir vorstellen, Liebste, dass es genau diese wie Pilze aus dem Boden schießenden kleinen Götter waren, diese Holzpüppchen mit den kaum ausgehöhlten Vertiefungen von Mund, Augen, Rippen, mit den verschmolzenen Beinen und den vom Körper nicht geschiedenen Armen – als handele es sich um einen ersten Entwurf des Schnitzers –, dass gerade diese sorgfältig in modrige Fetzen aus Holzfaser gewickelten Holzdingerchen es waren, die in den Tundrabewohnern wirklich ekstatische Gefühle zu wecken vermochten? Denn sie verkörperten die Götter und die kleinen Geister, sie verkörperten die Mutter Erde und die Geschlechter der Menschen und die zahllosen Gestalten und Stimmen all dessen, was in der Tundra lebt und wessen sich das Herz ihrer Einwohner erfreut.
Hier beginnt der dem Christentum parallele geistige Raum – mit seiner inneren Ordnung, seinen Wahrsagern und seinen Wundern, zu denen bislang einzig die transpersonale Psychologie Verständniszugänge aufgezeigt hat. 35 Dabei kennt der Schamanismus kein Dogma, genau genommen auch keine »Metaphysik«.
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