Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
gab es ringsumher außer dem Pulsieren dieses Urgrundes eigentlich nichts. Vielleicht hatten die Götter beschlossen, die Insel zu zerstören, sie als ein kurzzeitiges und nicht zwingend notwendiges Gebilde, dessen Sinn und Geschichte erschöpft waren, vom Antlitz der Erde zu wischen, vielleicht auch hatten sie sich einfach voller Übermut im Erschaffen von Formen geübt – worin läge der Unterschied; ihre nahe Gegenwart war zu spüren, nah ihre gigantische Macht, jede auflaufende Welle, die im Sand ihre Spur hinterließ, bildete ihr Genie ab.
Ich versuchte, mit Hilfe des Fotoapparats diese Spuren, diese Pinselhiebe des Schöpfers abzubilden. Dass diese Versuche eitel waren, würde ich nicht sagen, aber sie beinhalteten gleichermaßen die Zeit unseres Seins an dieser Küste wie die ewigkeitliche Zeit, die ja der Sand aufs beste symbolisierte. Vielleicht hat mich gerade der Sand an diesem Tag mehr als alles andere berührt. Der Sand,
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. Die zwiefache Möglichkeit des Sandes, Maß für die Zeit und Metapher für die Ewigkeit zu sein. Denn einerseits ist ja die Zahl der Sandkörner ungeachtet ihrer Menge natürlich begrenzt und folglich existiert diese Zahl und könnte ermittelt und ausgedrückt werden – darauf basiert das Funktionsprinzip aller Sanduhren. Doch zugleich steht fest: Wie viele Körner auch immer wir zählen, welch grandiose Pyramiden wir auch auf häufen im Versuch, seine Wüstenpotenz rechnerisch bis zum letzten Körnchen zu erfassen – der Sand wird doch all unsere Bemühungen übersteigen; und was wir zusammentragen, werden wir nicht halten können, der Wind zerweht unsere Projekte, wir werden die Zahl nicht ermitteln. Denn uns ist erlaubt, die Zeit zu berechnen, nicht aber die Ewigkeit zu vermessen.
Geht es freilich um Sekundenbruchteile – dann bitte. Einige Aufnahmen mit einer Belichtungsdauer von 1/60 oder 1/125. Einige winzigkleine Uferfragmente des kosmischen Puzzles aller Sandgebiete aller Wüsten aller Canyons aller Küsten aller Hochebenen.
Drei Jahre später besuchte ich in Paris zufällig die Vernissage einer Fotoausstellung von Marie-Claude White: Vorn auf der Einladung war das sich zusammenballende graue Universum abgebildet, mit Einsprengseln leuchtender Teilchen. Marie-Claude hat einen tief eindringenden Blick, sie entdeckt Galaxien, Schichtungen, schwere Massen, leichte Linien, die Federstriche von Wellen auf Küstenstrand. Dringt man mit dem Blick noch tiefer ein, betrachtet man zum Beispiel unter dem Mikroskop den schwarzen Vulkansand von der kamtschatkischen Pazifikküste, so kann man in eine Schatzkammer stürzen, aus der es kein Zurück gibt. Verzaubert von den im Schwarz des Sandkorns verborgenen regenbogenfarbenen Feuern läuft man Gefahr, das Wichtigste zu vergessen: das Gewaltige des Sandes, das Gewicht des Sandes, die unablässige tonnenschwere Bewegung des Sandes, das Heulen des Sandes, seine Verwaistheit.
O Sandräume der endlosen nördlichen Küsten – Wüsten der Wüsten! Nur der scharfe Märzschnee vermag wie ihr das Holz zu schleifen und die Knochen zu bleichen!
Offenbar war ich während des Gangs am Meer in eine Art Meditation versunken, jedenfalls verlor ich jede Zeitrechnung: Mir kam der Tag sehr kurz vor. In meinen Augen kehrten wir gegen zwei oder drei Uhr zurück, aber Petka hat in seinem Tagebuch notiert, dass es fünf, wenn nicht sechs war. Glücklicherweise hatte Alik zu unserer Ankunft einen Kessel frischer Gänsesuppe gekocht; er saß neben der Feuerstelle im Sand und zeichnete etwas mit einem Stöckchen. Tolik brachte noch eine Gans an – er hatte sie auf dem Steilhang mit einem einzigen gezielten Steinwurf erlegt –, weshalb wir alle davon ausgingen, dass wir jetzt sofort essen würden, und dann essen wir noch einmal, und danach fallen wir kolgujewartig todmüde um und schlafen dick und vollgefressen mit animalischer Ruhe, und am Fuß der Steilküste tost einzig das Meer und schaukelt unseren Schlaf wie eine Wiege.
So kam es auch teilweise: Wir ließen es uns schmecken, und Petka, der eine angenehme Schläfrigkeit verspürte, legte sich nach dem Mahl sofort aufs Ohr. Ich blieb noch beim Feuer, weil ich mich bereiterklärt hatte, das Geschirr zu spülen. Aber erst machte ich doch noch eine Aufnahme von unserem erbärmlichen Unterschlupf; darauf zu sehen: unsere zum Auslüften über Pflöcke gehängten Fußlappen und das die Feuerstelle vor dem Wind schützende Zelt. Schon auf Ausruhen eingestellt, rieb ich die fettigen Teller mit Gras aus,
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