Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
bestens, dass es nicht so einfach ist, sich dieses vor langem empfundenen Elans zu erinnern. Und dass das gewöhnliche Vorwärtsschreiten von einem Kapitel zum nächsten, das graphisch inzwischen sogar ohne Seitenumblättern zu bewerkstelligen ist: man braucht nur mit dem Blick abwärtszugleiten, mit den Augen im Raum des Buches ein paar wenige Millimeter nach unten zu wandern –, dass dieses gewöhnliche Vorwärtsschreiten vier Monate in Anspruch genommen hat, in denen ein ganzes, mit der Geburt eines Kindes verknüpftes Leben steckte. Und dass dies eine die Kräfte beinah übersteigende Prüfung war, wenngleich gar nichts Besonderes abverlangt wurde, nur: dem Leben das Seine zu geben, ein paar Monate lang pausenlos dieses neue kleine Dasein zu begleiten, nirgendwohin davonzulaufen, sich nicht in der »Literatur« zu verstecken. Es lässt sich natürlich so tun, als habe es das alles nicht gegeben. Weder diese vier Monate noch die vier Jahre, die seit jener Nacht vergangen sind – doch was hätte das für einen Sinn? Wie es sich gehört, überholt das Leben den Text und bricht von Zeit zu Zeit in solchen Wellen herein, dass es mich mehrmals fast vom Schreibtisch los-, um ein Haar für immer fortgerissen hätte. Dann war das Schreiben eine Qual und ich darin so lange wie in einer Folterkammer eingesperrt, bis der Text erneut eine Weiterung erfuhr – eine, die mit der Auffassung des Lebens korrespondierte, wie es auf mich zukam in diesen vier Jahren, in denen dermaßen viel geschehen ist … das im Übrigen auch nach Ausdruck verlangt und droht, sich in diese Erzählung zu drängen, und gewiss sich hineindrängen wird: in Form von Einzelheiten, die scheinbar nicht das Geringste mit dieser Nacht in der Tundra zu tun haben, aber dank eines raffinierten Auswahlprinzips doch neben ihr in einem geheimen Winkel deiner Seele lagern, wo das Beste, was dir widerfuhr, verwahrt ist. Damit, wenn du einmal nicht weißt, wohin mit dir, und der Teufel, dieser Sammler der erloschenen Seelen, dich erneut fragt, ob das Leben zu leben sich lohne, du in diese geheime Schatzkammer deiner Seele hinabsteigen kannst zwischen all die guten Erinnerungen daran, was du durch eigenes Tun gewonnen hast, das dir niemand mehr zu entreißen vermag – und damit du ihm an jenem Tag würdig antworten kannst.
Am Abend zuvor, erinnere ich mich, hatten wir Gänsesuppe gekocht; die demolierte Baracke und die verfallende Sägemühle im Rücken, lagen wir neben dem vor sich hin glimmenden Feuer im Sand und sahen bis zum Einbruch der Kälte aufs Meer. Die weißlichen Wellen tosten am Fuß der Steilküste, wir hatten keine Lust, schlafen zu gehen, und sicherlich weil das Meer so nah war, empfand ich plötzlich wieder mit aller Schärfe den
Rand
. Ihn nahm mein Gefühl auf kindhafte Weise buchstäblich: Hier, hier liegt anscheinend irgendwo der Rand der Welt, und wir sind hingelangt. Und jetzt sitzen wir oben auf dem Abhang und lassen die Beine über den Rand baumeln. Denn weiter ist Schluss. Gibts nichts.
Und es war wunderbar.
Dann zog vom Meer her plötzlich dichter Nebel auf, überwallte allmählich die ganze See, ballte sich unterhalb des Abhangs wie ein Meer aus Rauch; und als wenig später dieser kalte Rauch über den Rand der ihn zurückhaltenden Erde zu wabern begann, und auch die Insel und uns und unser Feuer und die Überreste der Gebäude, Mechanikteile, Traktoren verschluckte und alles ringsum mit einem Streich in einen Traum verwandelte, da brachen wir schließlich auf und legten uns hin, ehe die Feuchtigkeit in unsere Schlafsäcke kroch.
Ja, und der nächste Tag, als wir das Idol aufsuchten, war überhaupt ein uns von oben geschenkter Tag, ein Tag der Offenbarung, da die gewöhnlichsten Dinge sich plötzlich in ihrer ganzen unerschöpflichen Tiefe auftun und dein Geist, den es zufällig in diesen Tag und an diese Küste geweht hat, wo Erde, Wasser und Himmel sich aneinander reiben, ins Stocken gerät, weil er ungewollt Zeuge des unermüdlichen göttlichen Waltens wird, das seit dem Anbeginn der Welt sich vollzieht.
Ob die Menschen den Glauben verloren haben oder nicht, ist ihr Problem. Die Götter interessiert das nicht. Ihr Teil ist die Schöpfung. Im Nenzischen, mit seiner für den Ungeübten recht schwierigen Aussprache, werden die vier Grundelemente mit Wörtern bezeichnet, die einfach sind und melodiös wie Noten:
i
– Wasser,
ja
– Erde,
tu
– Feuer,
num
– Himmel. Ur-Laute; Ur-Grund. An diesem Tag, als wir das Idol aufsuchten,
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