Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
als Alik, der neben mir saß, plötzlich sagte:
»Wir gehen lieber heute weiter. In der Nacht.«
Eine Weile fuhr ich mit dem Abreiben der Teller fort und versuchte zu begreifen, was ihn zu diesem Entschluss veranlasste. Gewiss war ihm hier nicht einfach langweilig geworden – aber eine andere Erklärung fand ich nicht.
»Weshalb?«, fragte ich schließlich.
Er antwortete, dass der Mond merklich abgenommen habe und an Neumond, wie immer bei Mondwechsel, auch das Wetter wechsele; und weil wir bestimmt noch fünf Tage Marsch vor uns hätten, sei es besser, wenn uns das schlechte Wetter in einem soliden Balok erwischt, am besten am Kriwoje Osero, wohin wir ja ohnehin wollten.
Dem Augenschein nach war das Wetter ausgezeichnet, aber inzwischen neigte ich dazu, auf Alik zu hören: Er wusste eindeutig Dinge, die für mich nicht auf der Hand lagen oder sich ganz anders darstellten. Ich hatte bemerkt, dass alles, was er sagte, sich bewahrheitete. Mondwechsel und Wetterwechsel hingen für mich beim besten Willen nicht zusammen, aber er sprach davon, als verstünde sich das von selbst.
»Wer weiß, wie weit wir mit deinem Bein kommen in der Nacht …«
»Ja, wer weiß …«
Ich verstand; ich hatte starke Schmerzen, war folglich eine Last für meine Gefährten, und wenn wir meinetwegen schon langsamer vorwärtskamen, so hatte ich mich ohne Murren den Erwägungen eines Erfahreneren zu beugen.
Als Petka erwachte und sich zum Auf bruch rüsten sollte, gefiel ihm das gar nicht.
Allein der Gedanke, nachts zu laufen, war in seinen Augen absurd, und außerdem, er wollte noch … Bestimmt wollte er noch einmal richtig gut essen und sich anständig ausschlafen … Aber vielleicht wolltest du auch noch einen Abend an der Küste, noch einmal einen ruhigen Abend verbringen?
An dich, mein Freund Pjotr, wende ich mich – aber an wen wende ich mich da? An den Jugendlichen, den ich damals kannte? Oder an den jungen Erwachsenen jetzt, den ich praktisch nicht kenne? Denn alles verändert sich allzu rasch. Vielleicht war es unseren beiden Schicksalen ja beschieden, sich nur ein Mal zu kreuzen, damit es mir gelänge, ein angemessen dichtes Gewebe aus Worten zu wirken, und dir, deinen eigenen Weg in Angriff zu nehmen?
Vielleicht. Vielleicht.
Die Menschen bleiben selten lang zusammen, es sei denn, sie stecken sich so ferne Ziele, dass man die ganze Strecke gemeinsam gehen muss, um sie zu erreichen … Aber wenn du magst, lese ich dir ein paar Zeilen aus deinem Tagebuch vor? Ob du wohl glaubst, dass du das geschrieben hast und nicht jemand anders? Sollen wir uns vielleicht gemeinsam an diese Nacht erinnern, vielleicht entdecken wir ja ihre fernen Folgen in dem, was heute mit uns geschieht?
»Beschluss, in der Nacht weiterzulaufen. Aßen gut, erst Suppe, dann Gänsefleisch …« Stimmt. Genau so ging es los. Die Suppe hatte, wie gesagt, Alik schon vorher gekocht; die Gans, die Tolik am Strand erlegt hatte, wollten wir feiner zubereiten, Tolik schlug Filets vor. Er holte aus der Pennerhütte die verdreckte Brotbackform, die an ein Ziegelmodel erinnerte, und schrubbte sie mit Sand, bis sie sich als erstklassiger gusseiserner Schmortopf entpuppte. Darin garten wir das Fleisch. Man könnte meinen, ein Gänsefilet wäre nach einer Gänsesuppe vielleicht nicht gerade das, was den Gaumen kitzelt – aber das Fleisch war so schmackhaft, dass wir es bis zur letzten Faser aufaßen. Ganz abgesehen davon stand uns eine lange Wegstrecke bevor. Erstaunt sah ich, wie Tolik auch noch säuberlich das ausgelaufene Fett auflöffelte.
»Was machst du da?« Ich stellte mir die Reaktion meines Darms auf diese Kur vor.
»Ich esse das Fett.« Tolik begriff, dass mich etwas daran verwunderte, aber nicht, was.
»Du willst es aber wissen!« Ich bestand darauf, zu Recht verwundert zu sein.
Tolik heftete seine Augen auf mich: In ihnen stand kein Vorwurf, eher ein Ausdruck der Entschuldigung, dass er mir nicht weiterhelfen konnte …
Schnell und sorgfältig befestigten unsere Gefährten an ihren Rucksäcken, was sie in diesen Tagen am Strand oder im Umkreis der »Pennerhütte« hatten zusammenklauben können: ein Stück Kork, eine aufgerollte Perlonschnur von vielleicht fünfzehn Metern Länge, ein Säckchen mit allerlei Tabletten vom Boden unserer Schlaf kammer, einen grellroten meteorologischen Sondierballon – ein unzweifelhaft wertvoller Fund, denn die Nenzen benutzen diese wie große Luftballons aussehenden Sondierballons als Schwimmer für ihre Netze oder
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