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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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gewöhnliche Siirten. Die sagten zu ihm: Rühr nichts mit der Hand an! Und als sie schlafen gingen, da legten sie ihn neben ein Mädchen. Wie alles still war, da konnte er sich nicht beherrschen und strich ihr mit der Hand übers Gesicht. Aber das Mädchen hat ihn in den Finger gebissen. Hat ihr Zeichen hinterlassen. Krumm war der Finger und vernarbt, mit einem großen Mal, das blieb. Und die Siirten haben den Mann verjagt wie einen Wüstling. ›Nichtsnutz‹, haben sie zu ihm gesagt. Es sind kluge Leute, die Siirten, wurde erzählt. Sie kannten sich auch gut mit Kräutern aus. Und in Astronomie.«
    »Gibts denn noch irgendwie Gegenstände von den Siirten?«
    »Mit den Gegenständen, das ging so. Da, wo du glaubst, dass sie sind, hinterlegst du was zum Tauschen, ein Kettchen meinetwegen. Andernmorgens lassen sie dafür was da. Irgendein kleines Sächelchen.«
    »Und besitzt heute jemand noch so ein Sächelchen?«
    »Heut wohl nicht. Wir besaßen früher einen Korb aus Birkenschale. Aber da weiß ich auch nicht, obs den heute noch gibt oder nicht … Deshalb sage ich, dass sie existieren. Nur Türen haben sie keine. Wo sie hinverschwinden, das,
das
ist das Verblüffende …«
    Obwohl ich von jenem Tag an überzeugt war, dass der siirtische Birkenkorb nicht »weggekommen« und also für immer verloren war, habe ich doch niemals gedrängt, ihn gezeigt zu bekommen. Ich kam Grigori Iwanowitsch sehr nah und habe nie etwas
Hinterlistiges
an ihm wahrgenommen. Er ist ein ausgezeichneter Kenner der alten Zeiten und hat mir alles, was er wusste, erzählt, alles, was er erzählen konnte: verschwieg er etwas (und es gab Dinge, von denen er mir erst bei meiner dritten Kolgujew-Fahrt erzählte), dann gab es wichtige Gründe dafür.
    Zuallererst, nehme ich an, die Tatsache, dass das von uns, den »Zivilisierten«, als »Wissenschaft« gerechtfertigte ungezügelte, wilde Interesse, mit dem wir all die »Wunderdinge« eines anderen Volkes sehen und nach Möglichkeit besitzen wollen, diesem unerhörten Schaden zufügt. Alles, was zu unterschiedlichen Zeiten dem kulturellen Kreislauf der betroffenen Völker entnommen wurde – die Trommeln, Schamanenmasken und -anhänger, die Sjadejs (kleine Idolfiguren) und Alltagsgegenstände oder die selten schönen Festtags- und Ritualgewänder –, alles ist in unseren Museen vertrocknet und erstorben, denn es wurde nicht zum Besitz einer universellen Kultur. Was nicht verwunderlich ist. Wir haben nicht verstanden, uns dieser Dinge zu bedienen, hatten keinen Bedarf dafür; das Einzige, worauf wir uns verstanden, war, sie unseren Vorstellungen gemäß zu sortieren und zu verzeichnen. Günstigstenfalls zum Exponat geworden, schlimmstenfalls zur Depot-Inv. Nr. soundsoviel, taugen diese toten Splitter einst lebendiger Kulturen als hervorragendes Beispiel dafür, wie mörderisch unsere aufbereitende Wissenschaft sein kann. Ich dachte bei mir, dass mein Wunsch, den Siirtenkorb zu sehen, letzten Endes pure Neugier war. Für Grigori Iwanowitsch dagegen verband sich dieser Korb und vielleicht ja auch die Notwendigkeit, dass er im Geheimnis bewahrt blieb, mit allem, was auf der Insel war, ist und sein wird, mit etwas sehr Persönlichem und sehr Wichtigem, wozu auch das Verhältnis zu den Siirten gehörte, innerhalb dessen dieser Korb aus Birkenrinde, »wenns mal drauf ankommt …«, als ungewöhnlicher Trumpf dienen könnte. Hier, in Grigori Iwanowitschs Händen, auf diesem Stück Erde, bekräftigte der Birkenkorb den Zusammenhang der Zeit, den Zusammenhang der Überlieferung …
    Ich versuchte seit langem, mir diese Denkstruktur anzueignen, aber wirklich eigen war sie mir noch nicht. Ich erinnere mich, dass ich mich ständig bei dem Wunsch ertappte, irgendetwas »auszugraben«: zuerst die Altgläubigen-Gräber, dann die »Bugra« an der unteren Pestschanka, diese Erdhütte, in der die erste, Ende des 18. Jahrhunderts von Mesener Pomoren auf die Insel übergesetzte nenzische Familie lebte. Alik kam zufällig auf diese Bugra zu sprechen, worauf ich, für ein paar qualvoll lange Minuten von einem bösen Schatzsucherfieber befallen, beinah die sofortige Abänderung unserer Route deklariert hätte, weil ich unbedingt die Erdhütte ausgraben wollte. Davon abgehalten hat mich wohl nur der fehlende Spaten. Wieder bei Sinnen, fragte ich Alik, warum sie noch niemand ausgegraben habe.
    »Und wozu?«, fragte er ruhig und erstaunt.
    Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten unserer nachfolgenden Unterhaltung,

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