Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
aber ich glaube, danach konnte ich eine Zeitlang aus nenzischer Perspektive den Sinn erfassen, die Bugra nicht anzutasten.
Da liegt am Unterlauf der Pestschanka diese Bugra. Seit zweihundert Jahren. Der Zugang ist verschüttet. Von Gras überwuchert, verwahrt sie im Innern ihre Vergangenheit. Vielleicht ist es leer im Innern, vielleicht gibt es dort verschiedene Gegenstände, wer weiß. Zweihundert Jahre schon existiert die Bugra hier, gehört der Insel an, bringt Überlieferungen, Rätsel, tiefsinnige Gedanken hervor, die sie umkreisen. Würden wir sie ausgraben, so zerstörten wir diesen wohleingerichteten Lauf der Dinge, wir würden in die Vergangenheit eindringen und dort alles durcheinanderbringen. Bin ich sicher, ob das, dem zu geschehen beschieden war, verändert werden darf? Bin ich sicher, dass die Vergangenheit uns nicht auf irgendeine Weise antworten würde? Angenommen, ich fürchte die Vergangenheit nicht. Wir gingen also zur Bugra und rammten ihr den Spaten ins Haupt, rissen ihr Schicht um Schicht herunter, höhlten sie aus. Wir fänden ein paar Holzsplitter, ein paar vermoderte Fellstücke, die nähmen wir mit. Und die Insel besäße keine Bugra mehr, die, weil sie darin ihre Vergangenheit, ihre unbekannten Schätze versiegelt hat, einen Wert besitzt; es gäbe keine die grünende Stirn der Bugra umwehenden Überlieferungen mehr. Wer wäre also hinterher reicher? Was sind Holz- und vermoderte Fellstückchen wert ohne die Bugra, erst recht dort in Moskau? Und wie soll es mit der Insel weitergehen ohne Bugra? Denn sie, die Insel, die eine, große, lebendige Insel, würde ärmer, weil es einen flüchtigen Moskauer Besucher juckte, zu wissen, was dort im Innern ist …
So ungefähr sieht jenes Denken aus.
Als ich es mir ein wenig zu eigen gemacht hatte, begriff ich vieles.
Ich begriff zum Beispiel, wie sich zwei Konzepte der arktischen Geschichte herausgebildet haben, die selbstverständlich auch die Siirten betreffen. Das eine Konzept (das nenzische) gründet auf der Überlieferung, die mündlich weitergegeben wird, die lebendig ist und sich durch wechselseitige Verquickung und Überlagerung der verschiedenen Geschichten sowie das eine oder andere Hinzuerfundene unablässig bereichert. Das andere Konzept (unseres) zielt darauf, aus den Überlieferungen einen Extrakt von
Daten
her-auszufiltrieren, Fakten, die wir auch noch auf andere Weise zu erlangen trachten, zum Beispiel durch Ausgrabungen, linguistische Forschungen oder die Analyse literarischer Quellen. Deshalb ist die Geschichte der Siirten für uns abgeschlossen. Für die Nenzen geht sie auf seltsame Weise weiter – ungeachtet aller Verstandesbeweise: auf der Sinnenebene. In der Zeit des Mythos. Verborgen unter der Erde. Parallel zu unserem Lebensstrom …
Als Gegenstand der Wissenschaft rückten die Siirten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ins Blickfeld – also etwa zu der Zeit, als ihre letzten Geschlechter am Erlöschen waren (zumindest versicherten Jamal-Nenzen dem russischen Archäologen Waleri Nikolajewitsch Tschernezow 1929, die letzten Siirten »ließen sich noch vier oder sechs Generationen vor uns antreffen, danach verschwanden sie endgültig«). So schreibt im 18. Jahrhundert das Mitglied der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften Iwan Lepjochin, der im Archangelsker Gebiet die nenzischen Tundren bereiste: »Das ganze samojedische Land im heutigen Mesener Gebiet ist von verwaisten Wohnsitzen einer alten Völkerschaft überzogen. Dieselben finden sich allenthalben in der Tundra unweit von Seen und in den Wäldern an Flussläufen und sind, Höhlen gleich, in Hügeln oder Bergen erbaut … Darinnen finden sich Öfen sowie eiserne, kupferne und tönerne Bruchstücke häuslicher Gerätschaften und auch menschliche Knochen. Die Russen nennen selbige Wohnsitze Tschudenbehausungen. Die Samojeden vertreten die Ansicht, diese leeren Wohnsitze gehörten unsichtbaren Menschen, deren Name Sirte sei …« 51
Ein halbes Jahrhundert später nahm sich Alexander von Schrenk mit deutscher Systematik des Themas an und begnügte sich nicht mehr mit derart allgemeinen Aussagen. Er zeichnete nicht nur, wie bereits erwähnt, als Erster nenzische Überlieferungen zu den Siirten auf, sondern arbeitete auch deren Abstammung heraus. Er weist darauf hin, dass viele »Benennungen von Lokalitäten in diesen Tundren« (dem Petschora-Gebiet) weder russischen noch nenzischen Ursprungs seien; man finde »diese Namen auch wieder insbesondere unter
Weitere Kostenlose Bücher