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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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der Faktoreiherde gestohlen und geschlachtet. Unterwegs hat er dann das zerlegte Tier aufgeladen. Der Brigadier hat das Ren nachher vermisst. Es war ein auffälliges Tier, mit einem Fleck auf der Stirn. Aber einer der Hirten, Wanka, hat gesagt: »Ein Teil von der Herde hat sich abgesetzt, bestimmt ist es mit weg.« Und so blieb es verschwunden, die haben die Sache vertuscht. In der Brigade haben sie sich immer wechselseitig rausgehauen, gedeckt. Und wie ich als Hirte in die Brigade abkommandiert wurde, wollten sie mich da nicht haben, ich bin für sie wie ein Keil gewesen.
    Aber ich wollte da auch selber nicht arbeiten. Früher hielt die Insel bis zu zwanzigtausend Rene. Die Ärmsten besaßen hundert, hundertzwanzig Stück, alle hielten Rene. Wer zwei-, dreihundert Stück Vieh besaß, galt nicht als reich. Aber jeder wanderte damals seinen Tieren hinterher. Heute, da laufen sie frei herum, sogar der Brigadier weiß nicht, wo sie sind. Fragst du ihn, wo die Herde ist, besonders im Februar, März, weiß er es einfach nicht …
    Früher dagegen, da wurde die Herde jeden Morgen zusammengetrieben, die Zugtiere rausgefangen, der Rest gleich wieder freigelassen. Danach zog die Herde friedlich rum. Und wenn sie sich die Flanken und die Geweihe kratzten, dann gings allmählich auf die Nacht zu. Wenn dann die eine Hälfte schon lag, wurden die andern beigetrieben. Am Kriwoje-See haben früher drei Herden geweidet. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie sich vermengt hätten. Oder das Moos bis auf den nackten Grund aufgescharrt hätten. Wir sehen, da drüben, da werden Rene gefangen: Ah, die Nachbarn haben ihre Herde hergetrieben! – da haben wir uns nur gefreut.
    Jetzt dagegen …
    Einmal kamen zwei Hirten von der Nachtrunde zurück. Wollten dann ins Dorf, nach Bugrino. Fängt der Hirte Mitri im Korral doch genau die selben zwei Tiere ein, mit denen die beiden eben erst gekommen sind – hat er doch die erschöpften Tiere für die Weiterfahrt gefangen und vorgespannt! Solche Nichtsnutze sind das heute. Früher dagegen: Wie hättest du da Rene gehalten und nicht jedes einzelne von Angesicht gekannt.
Verschiedene Geschichten
.
    Ein Schamane, Amgaljew, beschloss, eine besonders zänkische Alte zu erschrecken. Also verwandelte er sich nachts in einen unterirdischen Chora (ein Mammut). Seine Frau sagt: Neben dir zu schlafen ist gruselig, irgendwas machst du nachts, dein Körper ist da, aber deine Seele treibt sich irgendwo rum …
    Schließlich träumt ein anderer Schamane, Prokopi, dass Amgaljew als unterirdisches Ren eine Alte erschrecken geht. Da verwandelt er sich selber in einen Eisbären und geht auf den unterirdischen Chora zu. Der verpasst dem Bären aber eins mit dem Geweih in den Nacken. Am nächsten Morgen erwacht Prokopi mit Nackenweh. Er macht sich auf und bittet den andern Schamanen unterwürfig, ihn zu kurieren. »Hast schon ziemlich heftig zugehaun«, meint er. Und der andere: »War nur ein Scherz, hab dir bloß zum Spaß einen Schlag ins Genick versetzt.« Die beiden waren Kumpel, lebten im selben Lager.
    (
Nikita Ardejew zählt die Schamanen des Dorfes auf:
) Babuschka Nati (Natalja), Babuschka Sani (Alexandra), Afanassi und Kusma. Alles Schamanen, nach dem dritten Gläschen. Der Schamane Kusma hat mir mal gedroht: Wenn du mir nicht was zu trinken gibst, dann kommen sieben russische Recken und zerreißen dich vor meinen Augen in sieben Teile, drum, Alter, gieß ein! (
Lacht
.) Ich hab keine Angst vor irgendwelchen Schamanen – wie der alte Udossi.
    Udossi hat an nichts und niemand geglaubt, weder an Schamanen noch an Teufel. So wie ich. Udossi hat zu einem Schamanen, der ihm mit einer Krankheit drohte, gesagt: »Sag mir den Tag. Wenn ich an dem Datum sterbe, dann glaube ich dir, dass du Schamane bist, aber so gibts viele Krankheiten.« Da war der andere sofort still.
    Ein Schamane von Nowaja Semlja (früher, als es die Schiffsstrecke Archangelsk–Bugrino–Nowaja Semlja noch gab, kamen immer eine Menge Leute her) sagt zu mir: »Zerschneid mich in sieben Teile, ich setz mich wieder zusammen.« Er hatte schwer einen gehoben, also hab ich ihm lieber nicht geglaubt. »Womit fang ich an?«, frage ich ihn. »Soll ich dir erst den Kopf absäbeln, oder die Beine? Oder eine Schulter? Ich hab so meine Zweifel …«
    Da ist er schlagartig nüchtern geworden: »In Ordnung«, sagt er, »lass es, wenn du Zweifel hast.«
    Alle wollen Schamanen sein, aber echte Schamanen gibt es sehr wenige. Große Schamanen reden nicht über

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