Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
durch die wir wanderten – auf der anderen Seite der Koschka, aber in derselben Richtung. Die
Saxon
war uns einhundert Jahre, einen Monat, vierzehn Tage und mehrere Stunden voraus. Als deren Reisende die Insel ausmachten, beendeten wir wahrscheinlich gerade unser Mittagessen; ein paar Stunden später schipperte sie auf gleicher Höhe mit uns: das war genau der Zeitpunkt, als wir den Baumstamm suchten und die Yacht nicht sehen konnten, weil die riesige, den ganzen Horizont verlegende Brustwehr der Koschka noch immer den Blick aufs Meer abriegelte. Und später zog von See her Nebel auf, in dem gar nichts zu erkennen war, außerdem war es schon zu spät: das Schiff war nach Norden, in Richtung Kriwaja-Mündung, entschwunden. Um elf Uhr nachts, als wir uns auf der feuchten Lajda einen Tee kochten, war es anderthalb Seemeilen vor der Küste vor Anker gegangen. Die Maschinen sind gestoppt. Schlaf ergreift allmählich die ganze Besatzung, nur der wachhabende Matrose schmaucht, in seine Jacke verkrochen, auf der Brücke eine Pfeife …
Ließen sich
bestimmte Stunden
auf zwei Zifferblätter übertragen, von denen das eine Trevor-Battyes Zeit in einen Kreis von vierundzwanzig Stunden fasste und das andere unsere Zeit, und ließen sich diese beiden Zifferblätter zur Deckung bringen, so hätten wir uns am folgenden Tag gegen sieben Uhr abends begegnen können.
Doch wir sind uns nicht begegnet. Einer der unzähligen Gründe hierfür ist, dass wir auf ein Zusammentreffen nicht vorbereitet waren und, während die Engländer langsam längs der Küste in unsere Richtung gingen, statt sie willkommen zu heißen, in der Banja, die zu der aufgegebenen Prospektorenbasis gehörte, Dampf zu erzeugen versuchten – allerdings wegen der rissigen Wände vergeblich: wir hatten kalte Füße, einen warmen Hintern und einen glühenden Kopf, aber was war zu ändern. Mit Genuss rieb ich meinen nach Wärme lechzenden, vom Rucksack gestauchten, von einer Salzkruste bedeckten Körper ab und vergaß gänzlich den einzigen Zeitpunkt, zu dem eine Begegnung möglich gewesen wäre. Als wir, sauber, glücklich, dampfend, wieder ins Freie traten, war alles bereits aus und vorbei: von See her kam noch immer Nebel heran, und zu sehen waren noch immer nur der hölzerne Wohnwaggon, ein von Menschen und Wettern schwer zugerichteter Anbau sowie, rings um diese unglückseligen Baulichkeiten verstreut, Fässer, rostige Zweihundertliterfässer für Treibstoff, toter Samen eines abgestorbenen Sprosses unserer Zivilisation … Alik ging von Fass zu Fass. Er rüttelte an jedem und fand in einem noch bestimmt zwanzig Liter Diesel. Tolja und er gossen die gelbe, urinähnliche Flüssigkeit in einen zerdellten Eimer um und sagten, sie würden gleich den Dieselmotor anwerfen, der im Vorraum der Banja stand, dann hätten wir Licht. Strom einschalten zu können ist an sich eine tolle Sache, selbst wenn man ihn nicht braucht – aber mein Gott: Was für eine Begegnung haben wir versäumt!
Auf Trevor-Battyes Zifferblatt stand der 16. Juni 1894. Am Morgen hatte man von der
Saxon
eine Schaluppe zu Wasser gelassen, um zur Insel hinüberzurudern. Darin: Trevor-Battye, begleitet von seinem Hund und dem Vogelpräparator Thomas Hyland. Mit von der Partie: der Skipper und vier Matrosen.
Bei der Kriwaja-Mündung wurde das Boot aufs Küsteneis gezogen, dann bewegten sich die Engländer langsam nach Süden, dem Promojnaja-»See« zu, und nahmen neugierig alles Ungewöhnliche in Augenschein: »… ich machte Hyland auf eine Stelle aufmerksam, wo Steine eindeutig von Menschenhand aus dem Boden gewühlt worden waren. Powys sammelte zwei Bärenschädel auf und ein merkwürdig geformtes, durchbohrtes Knochenstück … Später erfuhr ich, dass es ein Pulvermaß war.« Unabwendbar näherte sich die Expedition dem Ort unserer Nichtbegegnung. Sie muss einen Abschnitt übersät von (für sie unsichtbaren) Fässern passiert und den Schulterpunkt der Koschka erreicht haben und wenig später auf den See gestoßen sein, an dem wir (am 30. Juli 1994 auf unserem Zifferblatt) wie halb im Fieberwahn nachts vorübergekommen waren. Und tatsächlich! Trevor-Battye schreibt: »Rund fünf Meilen küstenabwärts und anderthalb Meilen inseleinwärts gelangten wir zu einem recht großen See, dessen flache Ufer mit vorjähriger Vegetation umstanden waren. Wir dachten, wir sollten ihm, da er der erste größere war, der uns vor Augen kam, einen Namen geben, und so nannten wir ihn Saxon Lake.«
Gegen acht Uhr
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