Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende
verblasste, und für einen Moment war ich wieder in einer anderen Welt – in der Unmittelbarkeit der Kindheit. Eine flüchtige Berührung mit einer Erinnerung: ein Duft, ein Gesicht, ein Gefühl, eine nie ganz vergessene Empfindung von Wärme und Sicherheit. Und dann der zerstörerische Verrat, als alles verschwunden war. » Manchmal«, sagte ich langsam, » habe ich das Gefühl, dass ich mich erinnere. Da war etwas … Und dann ist es weg, und alles, woran ich mich erinnere, ist, wie es sich anfühlt, hungrig und kalt und verängstigt zu sein.«
» Wer hat sich um dich gekümmert?«
» Ein paar Verrückte auf dem Friedhof Dämmerhügel. Aber auf eher willkürliche Weise. Und die älteren Straßenkinder, die dort lebten, haben manchmal auch getan, was sie konnten. Wir haben alle aufeinander aufgepasst … Später habe ich erfahren, dass ich eines Nachts in eine Decke gehüllt auf einem der Gräber abgelegt worden bin. Ich vermute, dass ich damals keine zwei Jahre alt war.« Seine Frage hatte die Asche von Erinnerungen aufgewirbelt, deren Flammen ich absichtlich gelöscht hatte. Ich musste jetzt weitermachen, mich erinnern und darüber reden. » Ich habe damals ständig davon geträumt, dass eines Tages meine Eltern zu mir kommen und mir sagen würden, dass alles ein schrecklicher Irrtum war. Dass man mir den Platz, der mir durch meine Geburt zustand, eindeutig geraubt hatte … Es waren dumme, närrische Träume.«
Ich machte eine Pause, und die Stille zog sich in die Länge, bis Thor die Leere füllte. » Das war nicht gerade eine sichere Umgebung für ein Kind in deinem Alter. Ich bin überrascht, dass du überlebt hast, ganz zu schweigen davon, was für ein starker und lebendiger Mensch du geworden bist.«
Ich hörte das Kompliment kaum, so sehr war ich in meine Erinnerungen eingetaucht. » Es war knapp«, räumte ich ein. » Einige Male bin ich tatsächlich fast untergegangen … Als ich sechs oder sieben war, hat mich zum Beispiel einer der älteren Jungs belästigt. Er hat mir alle möglichen unangenehmen Dinge angedroht, wenn ich jemandem etwas sagen würde. Zuerst habe ich nur versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, so gut es ging … Aber dann, als er nicht aufgab, hat die alte Frau, die bei uns lebte, etwas gesagt, das ich nie vergessen habe: › Kind, du musst dich selbst um dich kümmern. Niemand anders wird es für dich tun.‹ Danach hörte ich auf zu träumen. Ich wusste, dass es nur mich gab, den Mischling. Ich musste mir mein Leben selbst gestalten. Mich selbst verteidigen. Und so habe ich zurückgeschlagen. Ich habe einfach ein Tohuwabohu veranstaltet, sobald dieser Junge in meine Nähe kam, so dass die anderen anfingen, ihn damit aufzuziehen. Am Ende hat er es aufgegeben und seine Aufmerksamkeit auf jemand anderen gerichtet. Er war derjenige, der angefangen hat, mich Glut zu nennen; ich schätze, er wollte mich damit verspotten, aber mir gefiel der Name. Bis dahin war ich einfach nur › das Halbblut‹ gewesen. Falls ich je einen richtigen Namen gehabt hatte, habe ich ihn längst vergessen.«
» Hast du jemals versucht, deine Eltern zu finden?«, fragte Thor.
» Ja. Vor ein paar Jahren bin ich in der Nabe die Geburtsarchive durchgegangen. Ich habe nach Berichten über einen Mischling gesucht, der Anteile von jemandem aus dem Süden und andere von jemandem von Venn hat. Aber ich habe nichts gefunden. Vielleicht hat meine Mutter die Geburt nie angemeldet. Ich vermute, dass sie mich eine Weile behalten hat, aber dann, als ich alt genug war, um herumzulaufen, so dass die Leute sehen konnten, dass ich ein Mischling war, hat sie mich einfach beiseitegeschoben. Ansonsten wäre sie wegen der Gesetze, welche die Fortpflanzung zwischen den Inseln verbieten, in Schwierigkeiten geraten. Auf den Wahrer-Inseln wird so etwas mit erzwungener Unfruchtbarkeit bestraft.«
» Die Menoden arbeiten seit Jahren daran, diese antiquierten Vorstellungen über die Reinheit der Inseln abzuschaffen«, knurrte Alain. Es war das erste Mal, dass ich ihn so wütend erlebte. » Es ist ungeheuerlich. Wir sind alle Gottes Kinder.«
» Ja«, sagte ich.
Armer Alain. Er verschwendete viel Zeit damit, mit mir über Gott zu sprechen, mir den Glauben daran zu geben, dass ich das ertragen könnte, was immer auf mich wartete, aber ich konnte nicht annehmen, was er mir bot. Ich konnte an seinen Gott der Güte nicht glauben, und auch nicht an seinen Himmel für die Gläubigen. Ich stellte alles in Frage. Ich konnte so etwas nicht
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