Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende

Ich versetzte ihm einen heftigen Stoß unter das Kinn, und er war weg. Aber das änderte nichts an meiner Lage – ein anderer folgte, wurde wie er durch Magie bewegt und von meiner tödlichen Klinge angezogen. Und die ganze Zeit über sah Morthred zu, schoss hierhin und dahin, rief den Männern und Frauen, die er zu mir lockte, ermutigende Worte zu. Er wusste genau, was er tat. Er hätte nur zwanzig von ihnen befehlen müssen, sich alle auf einmal auf mich zu stürzen, und sie hätten mich allein durch ihre Übermacht überwältigt. Aber das wollte er nicht. Selbst in diesem Durcheinander wollte er mich leiden sehen. Er wusste, dass ich hasste, was er tat. Er sah meine verzweifelten Bemühungen, zu vermeiden, dass ich töten und verstümmeln musste – und er lachte darüber.
    Alles, woran ich denken konnte, war die Tatsache, dass ich Menschen das Leben nahm, während Thor Menschen rettete.
    Und dann sah ich Morthreds linke Hand. Die drei Finger waren ganz eigenartig in sich verdreht, obwohl sie einen Moment zuvor noch gerade gewesen waren. Ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, während ich weiter damit beschäftigt war, die Sklaven abzuwehren. Wie hieß es noch in den alten Geschichten über Morthred den Wahnsinnigen? Er hatte sich erschöpft, hatte sich zu sehr verausgabt, zu viel Macht eingesetzt und war deshalb hoffnungslos geschwächt worden. Ich hatte geglaubt, es wäre das unkontrollierte Freisetzen seiner eigenen Macht gewesen, was ihn so verrenkt, seinen Körper so verzerrt hatte … so, wie sich jetzt diese drei Finger verdrehten. Er schwächte sich.
    Die Idee, die daraufhin in mir aufkeimte, war aus Verzweiflung und Erschöpfung geboren. Ich tötete Menschen, die es nicht verdient hatten zu sterben, und das war etwas, das ich nicht mehr ertrug. » Warum tut Ihr das?«, rief ich ihm zu. » Ich bin es doch nicht, die Euer Dorf und Eure Leute zerstört! Es sind die Wahrer da drüben!« Ich deutete in Richtung der beiden Schiffe, die sich jetzt als Silhouetten vor dem im Abendlicht dunkler werdenden Meer abzeichneten. Sie hatten den Beschuss nicht wieder aufgenommen, aber das war es nicht, worauf ich ihn aufmerksam machen wollte. » Wieso richtet Ihr Eure Dunkelmagie nicht auf sie ? Oder seid Ihr so schwach, dass Ihr nicht einmal ein paar Schiffe versenken könnt? Ihr, der Ihr einst die Dunstigen in der Hochsee versenkt habt? Was ist los mit Euch, Morthred? Ich dachte, Ihr wärt der größte Dunkelmeister aller Zeiten!« Ich machte weiter damit, in dem Wissen, dass solche spöttischen Herausforderungen bei niemandem funktioniert hätten, der auch nur ein bisschen Verstand besaß. Aber Morthred war nicht vernünftig. Schlau, ja. Gerissen auch. Aber vernünftig – nein. Nicht, wenn er sah, dass ihm alles, wofür er gearbeitet hatte, zwischen den Fingern zerrann. Nicht, wenn er sah, dass um ihn herum die Silbbegabten starben, die er sich mit so viel Mühe unterworfen hatte. Der Wahnsinn beherrschte ihn jetzt voll und ganz.
    Und daher tat er genau das, worauf ich aus gewesen war. Er befahl zwei weiteren ehemaligen Silbbegabten, mich anzugreifen, dann wandte er sich von mir ab, um das, was er noch an Macht besaß, auf die Wahrer-Schiffe zu schleudern.
    Kälte überkam mich. Was, wenn die Wahrer ihre Schiffe nicht vollständig mit Schutzzaubern versehen hatten? Sie waren geschützt, das wusste ich. Ich konnte das filigrane, silbenblaue Netz erkennen, das sich von der Mastspitze bis zur Wasserlinie erstreckte. Aber was war, wenn es nicht genügte? Was war, wenn ich mich irrte, was Morthreds Macht betraf, und er doch noch deutlich mehr Kraft als erwartet zur Verfügung hatte? Wenn ich mich geirrt hatte, würden Flamme und die Wahrer sterben. Die Tatsache, dass drei Finger sich in ihren früheren deformierten Zustand zurückentwickelt hatten, war kaum ein überwältigender Beweis dafür, dass Morthred sich durch den verschwenderischen Umgang mit seiner Macht genügend verausgabt hatte. Ich spielte mit dem Leben anderer Menschen. Hätte ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt, ich hätte ihn nie auf diese Weise herausgefordert. Ich hätte nie riskiert, dass so viele Menschen starben, darunter auch Flamme, nicht aufgrund einiger dürftiger Hinweise. Noch heute wache ich manchmal mitten in der Nacht schweißgebadet und fröstelnd auf und denke an das Risiko, das ich da eingegangen bin. Und dann frage ich mich: Habe ich es getan, um mich selbst zu retten? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wenn man Angst hat und