Die Inseln des Ruhms 3 - Die Magierin
sagte sie. Ihre Stimme klang vor Sarkasmus ganz belegt. » Aber manchmal reicht es eben nicht, vorsichtig zu sein, verstehst du?«
Sie stand da und starrte mich mit einem wilden Blick an; sie war den Tränen nahe. Und ich, Gott helfe mir, brachte kein Wort heraus. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir mein eigener Gezeitengleiter einen Schlag versetzt. Ich wollte Cissy nicht heiraten. Ich liebte sie nicht. Ich hatte sie nie geliebt. Sie war die Tochter eines Fischers, der nicht von Bedeutung war, wohingegen meine Familie in Tenkor unzweifelhaft an erster Stelle stand. Mein Vater war der Gildner– das Oberhaupt der Gezeitenreiter-Gilde–, und die Gilde wachte über den gesamten Handel und die Lieferstraßen zur Nabe. Meine Familie war die reichste in Tenkor, und– wie ich in meiner Naivität dachte– wahrscheinlich auch eine der wohlhabendsten der ganzen Wahrer-Inseln. Es war unmöglich, dass ich jemals jemanden wie Cissy Lepanto heiraten würde. Es war unmöglich, dass ich auch nur wollen würde, jemanden wie sie zu heiraten. Männer wie ich schliefen mit Frauen wie Cissy; wir heirateten sie nicht. Und das hätte sie auch wissen müssen.
Eine ganze Flutwelle von Gedanken schoss mir durch den Kopf: Mein Vater würde mich töten. Cissys Vater würde mich töten. Cissys vier Brüder würden mich töten. Vater würde mich von ihnen freikaufen müssen. Dafür würde er mich umbringen. Cissy würde für eine Weile irgendwohin weit weg geschickt werden müssen. Wir würden sie überreden müssen, das Kind aufzugeben, und die ganze Sache geheim zu halten. Es musste doch wohl möglich sein… aber mein Vater würde einen Tobsuchtsanfall kriegen. Es kostete ihn Geld, und er hasste es, Geld zu verlieren. Er würde mir die finanzielle Unterstützung, die sowieso ziemlich niedrig war, wahrscheinlich ganz streichen. Ich würde lernen müssen, meinen Lebensunterhalt von dem Geld zu bestreiten, das ich als Gezeitenreiter verdiente, der noch nicht einmal die letzte Flutwellen-Prüfung hinter sich gebracht hatte. Verdammt, das war wirklich nicht gerecht. Ich war doch so vorsichtig gewesen.
Einen Moment lang stand Cissy einfach nur weiter da und starrte mich an. Plötzlich war ihr Gesicht gar nicht mehr so hübsch. Ihre Unterlippe zitterte, dann drehte sie sich um, raffte ihren Rock hoch und flüchtete, ließ mich wie einen Trottel einfach stehen. Einige Passanten grinsten mich an. Ich fühlte mich gedemütigt, und es kostete mich Mühe, meine Wut auf sie zu zügeln. Wieso mussten Mädchen nur immer bei allem gleich so verdammt gefühlsbetont sein?
Etwa ein Dutzend Vögel huschte wie Mäuse den Rinnstein entlang und pickte Samenkörner auf, die von einer Kornlieferung stammten, die zu den Getreidespeichern von Tenkorhaven unterwegs gewesen war. Ich versuchte, mich zu rühren und weiterzugehen, aber ich stand wie angewurzelt da und hatte das Gefühl, ich bräuchte ein Wunder, das die Zeit verändern und mich an einen früheren Zeitpunkt an diesem Tag versetzen könnte– an einen Zeitpunkt, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Und genau in diesem Moment geschah es.
Nie werde ich das Geräusch vergessen. Niemals. Dieses nasse, durchweichte, blutgetränkte Klatschen.
Eine Frau fiel aus der Luft, landete schreiend nur wenige Schritt von mir entfernt auf den Pflastersteinen. Sie war nackt und alt und faltig– und jetzt auch ziemlich tot. Ihr Blut spritzte auf meine Schuhe, glänzte in großen roten Flecken. Im gleichen Atemzug sprangen wie aus dem Nichts Menschen in dem Rinnstein unweit von mir ins Leben. Nackte, lebendige, blasshäutige Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Und dann, nachdem sie einen Moment lang aufrecht dagestanden hatten, fielen sie alle um, als wüssten sie nicht, wie man steht. Eines der jüngeren Kinder begann zu jammern; es kreischte entsetzlich vor wahnsinnigem Schrecken und Angst, und das Kreischen war so gewaltig, dass ich unwillkürlich spürte, es würde nie ein Ende geben. Sämtliche Haare standen mir zu Berge. Andere nahmen das Geräusch auf, bis es überall auf den Straßen ertönte und sogar von den Dächern klang.
Ich hatte einen solchen Schock, dass ich mich nicht rühren konnte.
Was war geschehen?
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Mir fiel einfach keine Erklärung ein. Ich stand lediglich da und starrte auf die tote Frau neben mir, betrachtete das Rinnsal aus Blut, das sich auf den Rinnstein zubewegte, und hörte das von überall her kommende, durchdringende Klagen. Ich vergaß sogar,
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