Die Inselvogtin
des Gottesmannes war so eindringlich, als hätte er geahnt, dass in seiner Gemeinde die schlimmste aller Intrigantinnen saß. Es entsprach nicht ihrer Art, sich allzu schnell ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Warum auch? Das Unrecht, das ihr an diesem Hof zugefügt worden war, hatte sie all diese Dinge tun lassen. Niemand hatte ein Recht, sie zu verurteilen, auch nicht dieser Pfaffe.
Carl Edzard war seit dem Tod seiner Mätresse nur noch ein Schatten. Also hatte Wilhelmine weiterhin bei Nacht das Haus des Geheimrates aufgesucht. Sie wusste, er würde dafür sorgen, dass sich ihr Bauch wieder wölbte und sie bald einen männlichen Thronfolger präsentieren konnte. Auch wenn er ein kalter Mensch war. Ein Eisklotz, der sie damals, als ihre Tochter Elisabeth nach wenigen Monaten gestorben war, mit ihrem Kummer alleingelassen hatte. Aber was hätte sie sonst tun sollen?
Nun war sie also tatsächlich erneut schwanger. Und der Zustand ließ sie wie ausgewechselt erscheinen, eine völlig andere Person, schwach und ständig angefüllt mit Tränen. Verletzlich wie eine der Porzellanfigürchen, die so edel, weiß und zerbrechlich auf ihrem Frisiertisch standen. Das Kind in ihrem Bauch stieß bereits ständig mit den Beinchen gegen die Rippen, es drehte und streckte sich. Es war ein Wunder. Und wenn das Kind ein Junge würde, was sie sicher glaubte, dann wäre es ihre Rettung. Denn Carl Edzard war krank, ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Und bis aus einem Säugling ein erwachsener Mann geworden war, dem man die Führung eines Landes zutraute, wäre sie die Herrin. Vor ihr hatte es bereits einige Cirksena-Witwen gegeben, die für ihre Söhne regierten. Wilhelmine wollte die nächste sein.
»Nun beginnen wir die Fürbitte «, sprach der Pastor und wies die Gemeinde an, sich zu erheben. Wilhelmine durfte sitzen bleiben. Als Mitglied des Fürstenhauses war ihr das lange Stehen nicht zuzumuten. Und in der Schwangerschaft musste sie sich noch zusätzlich schonen, so hatte es auch Doktor Horst angeordnet. Ihr Leibarzt saß schräg hinter ihr, und sie nickte ihm kurz zu, als die Litanei begann.
»Und so bitten wir dich für die Heiden und Juden, dass sie den rechten Glauben finden mögen.«
»Herr, erbarme dich «, antwortete die Gemeinde.
Kalt war es in der Kapelle. Wilhelmine fröstelte. Dies sollte ihr letzter öffentlicher Auftritt sein. Sobald die Messe vorüber war, wollte sie in die hübschen Zimmer des kleinen Schlösschens zurückkehren. Es war eine gute Idee gewesen, sich vor die Auricher Stadttore zurückzuziehen. Dort hatte Wilhelmine sich in den letzten Jahren ein eigenes kleines Reich einrichten lassen, in dem sie sich so sicher und geborgen fühlte wie seit ihrem Wegzug aus Bayreuth nicht mehr.
» … Wir bitten dich für unseren geehrten und gepriesenen Fürsten Carl Edzard von Ostfriesland, dass seine Genesung weiter voranschreiten wird und er … «
Wilhelmine horchte auf. Sie hatte nicht gewusst, dass es Carl Edzard bereits besser ging. Warum hatte ihr niemand davon berichtet?
»Herr, erbarme dich.«
»Und wir bitten dich, dass die Ernte in diesem Jahre ertragreich sein möge … «
Fast wäre Wilhelmine aufgesprungen. Hatte sie etwas überhört? Nach der Fürbitte für den Fürsten kam doch erst sie an die Reihe! Die Kirchen waren angewiesen, für die Fürstin und das ungeborene Kind zu beten. Aber nichts dergleichen wurde hier erwähnt. Das war unerhört. Wilhelmine wurde unruhig. Kam es ihr nur so vor, oder richteten sich jetzt tatsächlich die Blicke der kleinen Gemeinde auf sie? Eine Fürstin, für deren Wohlergehen nicht gebetet wurde, war ein Nichts! Der Stuhl schien von Minute zu Minute härter zu werden.
Nach dem letzten Lied und dem Schlusssegen erhob sie sich. Und als der Pastor auf sie zutrat, um ihr persönlich die Hand zu reichen, verweigerte sie ihm die Geste und zischte:»Es wird ein Nachspiel haben, dass Ihr mich und das ungeborene Kind nicht in die Fürbitten eingeschlossen habt, das kann ich Euch versprechen.«
Der Pastor wurde aschfahl. »Aber … « Er stammelte und suchte nach Worten. »So war es mir aufgetragen worden.«
Wilhelmine schnappte nach Luft. »Ich bitte Euch! Das muss ein Missverständnis sein.«
»Nein, ganz sicher nicht. Ich habe mich doch selbst darüber gewundert, Eure Durchlaucht, aber ich kann Euch das Schriftstück zeigen.« Er hastete in die Sakristei und kam bald darauf mit einem Bogen zurück. Seine Finger zitterten, als er das Schreiben entrollte.
Weitere Kostenlose Bücher