Die Intrige
gelandet und brachte alles aus dem Gleichgewicht. Der Baldachin schwankte und auf Chips Seite tauchte das Boot tief ins Wasser. Frauen in ungeheuer ausladenden Röcken stießen gegen elegante Männer, und alle lösten sich von ruhigen, unberührten Markern. Es warunheimlich, wie sich die Anzahl der Personen auf dem Boot von einem Moment auf den anderen zu verdoppeln schien, als Chip mit einer einzigen Aktion die Bewegungen aller veränderte. Die Leute lachten, schrien und – stierten. Ein Mann mit einem Ruder in der Hand löste sich von seinem Marker und kroch mit verwirrtem Gesichtsausdruck auf Chip zu.
Katherine sah bestürzt von Alex zu Jonas.
»Und?«, flüsterte sie. »Muss ich alles selber machen?«
Jonas starrte sie nur verständnislos an.
Katherine rannte los. Sie drängte sich durch die Menge wie ein Basketballstar, der vor dem Pausenzeichen unbedingt den entscheidenden Punkt machen will. Am Ende des Kais, hinter der Einstiegsstelle, glitt sie ins Wasser und – Jonas musste den Hals recken, um ihr nachzusehen – verschwand, fast ohne dass sich die Oberfläche kräuselte. Sekunden später tauchte sie am anderen Ende des Bootes wieder auf, kletterte hinauf und packte die Stange, die Chip schräg gegenüber stand.
Das Boot richtete sich unverzüglich auf.
Der Mann mit dem Ruder zuckte die Achseln, kehrte an seinen Platz zurück und verschmolz wieder mit seinem Marker.
»Oh«, flüsterte Jonas. »Darauf wäre ich auch gekommen. Früher oder später«, sagte er zu Alex.
Dieser grinste.
»Wann sagen wir ihr, dass die Leute früher sämtliche Abfälle in der Themse entsorgt haben?«, flüsterte er.
»Gar nicht«, flüsterte Jonas zurück.
Während sich die Leute nach und nach niederließen, verschwand ein Marker nach dem anderen. Jonas und Alex warteten, bis auch die Letzten zugestiegen waren, ehe sie, kurz vor dem Ablegen, an Bord kamen und die anderen Stangen packten. Sie achteten sorgsam darauf, im Gleichgewicht zu bleiben, sodass das Boot kaum schwankte.
Dann glitten sie auch schon über den Fluss.
Fünfzehn
Auf dem Galaboot war es gar nicht so übel. Solange er, an eine Stange geklammert, auf der Außenkante balancierte, konnte Jonas wenigstens sicher sein, nicht unbeabsichtigt jemanden anzurempeln. Außerdem hörte er Bruchstücke der Gespräche, die unter dem Baldachin geführt wurden.
Die meisten Leute schienen sich über das Wetter zu unterhalten.
»Was für ein wunderbarer Tag!«
»Wie gemacht für eine Krönung!«
Jonas fiel auf, dass viele der Menschen im Boot, obwohl sie alle vornehm gekleidet waren, Zahnlücken hatten, pockennarbige Haut oder schlimme Narben. Einem Mann fehlten sogar ein Auge und eine Hand, als sei er Statist in einem der
Fluch der Karibik -Filme
. Dabei, ging es Jonas durch den Kopf, wiesen in Filmen über alte Zeiten immer nur die Piraten oder Verbrecher irgendwelche Verunstaltungen oder Makel auf, während die Heldinnen und Helden immer einwandfreie Zähne und makellose Haut, perfekte Frisuren und Körperbesaßen. Als würden extra für sie Schönheitschirurgen, Kieferorthopäden, Haar-Stylisten und Fitnesstrainer aus der Zukunft anreisen, um sich um sie zu kümmern. Während im wirklichen Leben …
Du lieber Himmel, dachte Jonas. Manche dieser Leute sehen wirklich grässlich aus!
Eine Frau hatte sich ihm zugewandt, deren Wange von einer bösartigen Entzündung zerfressen wurde, sodass ihr dicker Eiter an der Seite herablief. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Wunde abzudecken oder zu verbinden. Fliegen umschwirrten den Eiter.
Jonas sah zu den anderen hinüber, um zu sehen, wie sie reagierten. Aber Chip und Alex starrten unbeeindruckt geradeaus.
Na klar, dachte Jonas. Sie sind es gewöhnt.
Katherine biss die Zähne zusammen und sah aus, als habe sie alle Mühe, sich nicht zu übergeben. Allerdings schien das, dank der Zeitkrankheit, seit ihrer Ankunft im fünfzehnten Jahrhundert ein Dauerzustand zu sein.
Hm, dachte Jonas. Wenn ich der Eiterdame nicht ins Gesicht sehen muss, ist mir eigentlich überhaupt nicht mehr übel.
Vielleicht hatten ihn zwölf Stunden in mittelalterlicher Luft kuriert. Möglicherweise hatte es auch geholfen, mittelalterliches Brot zu essen. Jonas erinnerte sich an eine Stelle aus einer griechischen Sage, die seineGemeinschaftskundelehrerin ihnen im sechsten Schuljahr erzählt hatte. Sie kannte sich in griechischer Mythologie ziemlich gut aus. Die Geschichte hatte von jemandem gehandelt, der in die Unterwelt gegangen
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