Die Intrige
er sprang vom Baum und seine Rüstung schepperte bei der Landung. Ein paar Soldaten in der letzten Reihe blickten sich nervös um, aber Jonas achtete nicht auf sie.
Katherine flitzte durch die Reihen, wich vollgepackten Köchern und ausgestreckten Bögen und Schwertern aus, die die Soldaten bereithielten, als erwarteten sie, jeden Moment losstürmen zu müssen. Jonas tat sein Bestes, um mit seiner Schwester Schritt zu halten.
Als Erstes trafen sie auf Alex, der ruhig und entschlossen zwischen den aufgereihten Soldaten stand. Da er Helm und Rüstung trug, konnte Jonas nichtmehr von ihm erkennen als das Gesicht, das dem modernen Alex erstaunlicherweise ähnlicher sah als dem Prinzen aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
Ja, klar, überlegte Jonas. Wenn Chip zwischen 1483 und 1485 zwei Jahre älter, also vierzehn geworden ist, müsste Alex zwölf geworden sein. Damit ist er nicht mehr weit von dem Dreizehnjährigen entfernt, den ich kenne.
Chip stand direkt hinter Alex, ein wenig abseits der anderen Soldaten. Aus der Nähe war es sogar noch merkwürdiger, ihn um zwei Jahre gealtert zu sehen, mit Flaum im Gesicht, einer ausgeprägteren Kieferpartie und einem kräftigen, muskulösen Nacken. Gab es im fünfzehnten Jahrhundert schon Anabolika?, schoss es Jonas durch den Sinn. Doch es waren weniger die körperlichen Veränderungen, die ihn verblüfften, als der Ausdruck in Chips Augen, sein wissender, lebenserfahrener Blick, als kenne er alle möglichen Dinge, von denen ein Dreizehnjähriger noch nichts wusste.
Katherine pflanzte sich genau zwischen den beiden Jungen auf.
»Chip? Alex?«, rief sie leise.
Keiner der beiden verzog eine Miene. Beide starrten wie hypnotisiert zur Schlacht hinüber.
Jonas begann sich zu fragen, ob es wirklich Chip war, der sich umgedreht hatte, als Katherine seinen Namen gebrüllt hatte. Er trat ein paar Schritte zurück und zählte nach: Chip war vom Rand aus gesehen derSechste, nicht der Vierte. Die vierte Person war ein alter Mann mit Backenbart. Sie hatten einfach nur Glück gehabt, dass sich ein Mann umgedreht hatte, der so dicht neben Chip und Alex stand.
Hoffnungslosigkeit übermannte Jonas. Was, wenn sie Chip und Alex nicht einmal dazu bringen konnten, Notiz von ihnen zu nehmen?
Jonas trat vor und zog Chip am Arm. Nicht fest, er wollte ihn nicht von seinem Marker trennen. So weit war es noch nicht. Außerdem konnte er es nicht vor all den Soldaten tun. Trotzdem wollte Jonas, dass Chip – der echte Chip aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert – für einen Moment hervorkam. Nur so lange, dass Jonas ihm sagen konnte, was sie vorhatten.
Jonas’ Finger schienen an Chips Arm einfach abzugleiten.
»Lass mich es versuchen«, sagte Katherine.
Sie knuffte Chip genauso erfolglos in den Rücken. Dann stieß sie fester zu. Sie zog und zerrte, nahm ein paar Schritte Anlauf und warf sich gegen ihn.
»Sei vorsichtig«, sagte Jonas. »Wegen so etwas hat HK uns beim letzten Mal aus der Zeit geholt.«
»Aber es funktioniert nicht!«, murmelte Katherine mit zusammengebissenen Zähnen.
Jonas schlich sich an Chip heran und beugte sich an sein Ohr, um ihm etwas zuzuflüstern.
»Bitte, Chip«, flehte er. »Erinnere dich daran, wer du bist. Wir müssen hier weg – um deinetwillen. Erinnerstdu dich noch an zu Hause? An Handys, iPods und Fernseher, Computer, Autos und … Pizza! Weißt du noch, was Pizza ist?«
Chip wandte den Kopf. Doch er blickte lediglich zu Alex hinüber und sagte: »Sieh nur, Norfolks Männer kämpfen am verbissensten.«
»Hallo?«, brüllte Jonas. Doch der Ruf ging unter im Jubel und Geschrei, das vom Schlachtfeld herüberdrang. Chip sah weiter durch Jonas hindurch.
»Ich hab eine Idee«, sagte Katherine.
Sie drängte sich an Jonas vorbei und legte Chip den Arm um die Schulter. Sie musste sich mächtig recken und auf die Zehenspitzen stellen, weil er inzwischen um einiges größer war als sie.
»Chip«, sagte sie und berührte ihn mit den Lippen fast am Ohr, »sechs Jungen haben mich im letzten Schuljahr gefragt, ob ich mit ihnen gehen will.«
»Was soll das, Katherine?«, schimpfte Jonas. »Das interessiert doch jetzt keinen!«
Katherine warf ihm einen bösen Blick zu und fuhr dann fort.
»Ich habe bei allen Nein gesagt, und willst du wissen, warum?«, fragte sie. »Eigentlich erwarten alle, dass man in der Sechsten einen Freund oder eine Freundin hat, aber mir lag nichts an den Jungen. Es hätte mir nichts bedeutet, zu sagen, dass ich mit Tyler Crawford gehe oder mit
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