Die irische Meerjungfrau
Wolkenfetzen vom Meer her über die Küste. Die Brandung schäumte und wusch die kantigen Klippen blank. Dunkle Felsen tauchten auf und verschwanden wieder in der Gischt.
Das musste Horse’s Neck sein, der Ort, wo einst die Piraten ihren ahnungslosen Opfern aufgelauert hatten.
Direkt unterhalb des Fensters klapperte ein Vordach aus Wellblech im Wind, vom Rost ebenso angenagt wie das wackelige Fallrohr der Regenrinne daneben. Darunter führten Treppenstufen zur Haustür, an der er am Vorabend vergebens gerüttelt hatte. Gegenüber der Schuppen, der nun bei Tageslicht betrachtet vermutlich als Pferdestall diente.
Stück für Stück kehrte die Erinnerung zurück. Die Flut, die ihn vom Festland abgeschnitten hatte. Die plötzlich hereinbrechende Nacht. Die Kälte. Und eine fast volle Flasche Whisky.
Wie hatte sie ihn bloß hierhergeschafft? Erst auf den Gaul gehievt. Dann die Treppen heraufgeschleppt. Bis aufs Sofa. Sicher, sie war kräftig, sie konnte ganz offensichtlich mit Pferdestärken umgehen, egal ob auf vier Beinen oder auf zwei Rädern.
Trotzdem. So ganz ohne Hilfe …
Er drehte sich um. Die Katze hatte seinen noch warmen Platz auf dem Sofa eingenommen und sich auf der Decke zusammengerollt. Ihr arroganter Blick folgte jeder seiner Bewegungen.
Fin beugte sich über sie. »Weißt du, Mieze, ich hab zwar einen Kater, aber …« Sie betrachtete ihn ungerührt. Er hielt inne und winkte ab. »Vergiss es, sollte ’n Scherz werden, aber vergiss es. Streich einfach die letzte Bemerkung.«
Er seufzte, umrundete vorsichtig das Sofa und machte sich auf die Suche nach der Küche. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee zeigte ihm den Weg.
Die Küche war klein. Keine moderne Einbauküche aus Kunststoff mit Mikrowelle und Geschirrspüler. Hatte er auch nicht erwartet. Stattdessen klobige Holzschränke, an denen die Farbe abblätterte, und schiefhängende Schubladen, denen die Griffe fehlten. Fin kannte Leute, die viel Geld dafür ausgaben, dass ihre Küche zu Hause mindestens ebenso authentisch aussah. Diese Schränke hier waren wirklich alt. Das gesprungene Glas einer Vitrinentür stammte wahrscheinlich noch aus der Erstausstattung des Leuchtturms aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Den meisten Platz nahm der Herd ein, ein uraltes eisernes Monstrum, noch mit Torf befeuert, verbreitete mollige Wärme.
Die Meerjungfrau stand vor der Anrichte und beobachtete aufmerksam den Kaffeefilter. Sie war barfuß, trug verblichene Bluejeans und einen ausgeleierten Strickpullover, dessen Farbe Fin an einen verregneten Herbstnachmittag erinnerte. Aber er betonte das leuchtende Rot ihrer Haare.
Sie schaute auf, als sie ihn bemerkte.
Der Blick war ihm unangenehm, er fühlte sich genötigt, irgendetwas zu sagen. »Filmriss.« Er zuckte mit den Achseln.
»Sieht ganz so aus.« Sie widmete sich wieder der Betrachtung des Kaffees. Sie hatte die Arme verschränkt und dicht an den Körper gepresst, als ob ihr trotz des Herdfeuers kalt war.
Fin spürte seine wackligen Knie, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich unaufgefordert draufplumpsen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so besoffen gewesen war. Normalerweise hatte er seinen Pegel ganz gut im Griff. »Hab ich mich daneben benommen? Irgendeinen Scheiß gebaut letzte Nacht?«
»Nö«, antwortete sie ohne aufzuschauen, »als ich dich gefunden habe, dachte ich erst, du seist tot. Aber du hast nur geschlafen wie ’n Toter.«
Sein Blick ging über den gedeckten Tisch. Brot, Käse, Marmelade, Milch. Kein üppiges Frühstück wie bei Mrs. MacCormack. Aber er war froh darum; allein der Gedanke daran rief einen leichten Brechreiz hervor.
»Was wolltest du hier auf der Insel?«
Da war es wieder. Dieses Misstrauen, das jeder hier in Foley mit der Muttermilch aufsog.
»Den Sonnenuntergang betrachten.«
»Mit einer Flasche Whisky?«
Fin zog eine Grimasse.
Sie erlöste den Kaffeefilter und warf ihn in den Ausguss. »Machst du das öfter?«
»Also, wenn du damit andeuten willst, dass ich ein Alkoholproblem habe …«
»Hast du?«
Sie goss Kaffee in seine Tasse. Er bemerkte die eingetrockneten Farbspritzer an ihrem Pulloverärmel. »Hör mal, das ist jetzt vielleicht nicht gerade der richtige Zeitpunkt −«
»Zucker?«
»Ja, bitte.«
Sie holte eine angestoßene Porzellandose aus dem Küchenschrank, stellte sie ihm vor die Nase und setzte sich an den Tisch.
Fin goss reichlich Milch in seinen Kaffee und begann Zucker hineinzuschaufeln. Beim siebten
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