Die irische Meerjungfrau
angetreten hatte. Er stützte sich mit zitternden Händen am Autodach ab und schaute sich um. Der Schütze konnte überall gestanden haben. In einem Garten, hinter einer Hausecke, oben auf dem Hügel. Keine Menschenseele war auf der Straße, niemand schien die Schüsse gehört zu haben.
Es hatte den Außenspiegel erwischt und der rechte Hinterreifen war platt, das Loch, das die Kugel in den dicken Gummi gerissen hatte, unübersehbar. Er konnte sich schon mal überlegen, wie er das der Versicherung erklärte.
Zwei Kerzenstummel hatte es vom Torpfosten auf den Rasen gefegt. Maria hatte den großen Zeh und einen Teil ihrer Sandale eingebüßt, ihren sanftmütigen Gesichtsausdruck hatte sie deswegen nicht verloren. Heilige waren hart im Nehmen. Leider konnte sie ihm nicht verraten, wer auf ihn geschossen hatte.
Billy MacGann kam ihm in den Sinn. Billy war der Einzige, der ihn unmissverständlich gewarnt hatte. Aber Billy schien der Typ zu sein, der es gewohnt war, dass man seinen Ansagen nachkam. Er hatte es nicht nötig, etwas zu unterstreichen oder ein Ausrufezeichen dahinterzusetzen. Ein Hinterhalt war eher nicht sein Stil. Abgesehen davon war Fin überzeugt, dass Billy, hätte er ihn tatsächlich töten wollen, auch getroffen hätte.
Eine Gänsehaut krabbelte seinen Rücken hinunter. Der Autoschlüssel klapperte in seiner Hand.
Nein, wer immer da auf ihn geschossen hatte, hatte ihn nicht treffen wollen. Es war eine Warnung gewesen.
Der Geländewagenfahrer? Ein eifersüchtiger Freund von Charlotte? Irgendjemandem war er ganz gewaltig auf die Zehen getreten.
Fin öffnete den Kofferraum und holte den Reservereifen hervor. Nach dem Reifenwechsel sah er aus wie ein Schwein, Hände und Kleidung völlig verdreckt. Die Dusche hatte er sich redlich verdient.
Wenig später, unter einem kräftigen Strahl heißen Wassers, fiel die Anspannung endlich von ihm ab. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen die Kacheln und ließ die Tropfen auf sich niederprasseln. Atmete den Dampf ein und genoss die wohlige Wärme. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, aber nichts blieb hängen, alles perlte an ihm ab, rauschte mit dem Schmutz durch den Abfluss. Als das Wasser abgelaufen war, blieb nur ein Name zurück.
Charlotte.
Er machte sich Sorgen um sie. Auch wenn sie das Medikament ganz offensichtlich von einem Arzt erhalten hatte, so wusste er doch, dass es nicht ungefährlich war. Morphin machte abhängig. Er fragte sich, seit wann sie es spritzte. Wie oft sie es brauchte.
Andererseits – und da war es wieder, dieses kleine zähnefletschende Monster Zweifel – andererseits wusste er nicht, was wirklich in dieser braunen Flasche drin war. Die Medizin, die Krücke – spielte sie ihm am Ende nur Theater vor? War sie vielleicht nicht besser als all die anderen im Dorf, die ihn an der Nase herumführten? War nicht alles ein einziges großes, abgekartetes Spiel?
Oder lag es einfach an seinem Beruf, dass er niemandem mehr traute?
Er schob die Antwort auf diese Frage auf, trocknete sich ab und kroch splitternackt unter die Bettdecke. Augenblicklich schlief er ein. Tief und traumlos.
Als er aufwachte, war es kurz vor sechs. Er hatte fast fünf Stunden geschlafen. Er duschte nochmal und zog frische Kleidung an. Er verspürte immer noch leichte Kopfschmerzen, aber wenigstens das Fieber war er los. Trotzdem schluckte er zwei Grippetabletten, spülte sie aber vorsichtshalber mit Leitungswasser hinunter. Diane fiel ihm ein. Wenn er sich beeilte, erwischte er sie noch im Büro. Notfalls würde er sie zu Hause anrufen. Und danach auf einen Happen zu Ronan ins Fisherman. Die Schüsse auf ihn hatten seinen Ehrgeiz geweckt. Er hatte Blut geleckt und wollte es wissen. Vielleicht wurde aus ihm ja doch noch ein richtiger Held. Als Erstes würde er sich unauffällig nach einem schwarzen Geländewagen umhören. Auch wenn die Tarnung als Tourist nicht mehr allzu viel hergab, so griff er sich dennoch seinen Rucksack und steckte seine Brieftasche hinein. Ein Stück Papier geriet zwischen seine Finger. Er zog es hervor. Das Faltblatt der Yeats-Stiftung, das Vater Keelan ihm in der Kirche in die Hand gedrückt hatte. Eine Hochglanzbroschüre, die auf vier aufklappbaren Seiten mit bunten Bildern und erbaulichem Begleittext das berühmte Triptychon des Malers Jack Butler Yeats beschrieb. Fin wollte es in den Papierkorb werfen, als er plötzlich stutzte.
Eingehend betrachtete er die Abbildungen der einzelnen Altartafeln. In der Mitte die
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