Die irre Heldentour des Billy Lynn
nicht sein Herumgebumse und nicht mal dessen lebender Beweis, eine nach seinem Schlaganfall plötzlich aufgetauchte Tochter im Teenageralter sowie ein Vaterschaftsund Unterhaltsprozess. Alles zweifellos bedauerliche Angelegenheiten, aber kein Geheimnis, nicht deshalb wurde um den heißen Breifleck auf der Familienehre herumgeschlichen. Es war eine andere Schande, über die nie geredet wurde, und dabei war sie hinreißend. Die Schande bestand darin, dass man sich mies fühlte, weil man sich wohlfühlte. Ray nämlich würde – konnte? – nicht mehr sprechen: – – –! Die berühmte Silberzunge war endlich zum Schweigen gebracht worden, zu jedermanns Erleichterung und klammheimlicher Freude.
»Ich hab manchmal das Gefühl, ich lebe in einem schlechten Countrysong«, sagte Kathryn und erzählte Billy, dass sie einesTages ins Wohnzimmer gekommen sei und Ray winselnd auf dem Boden gelegen habe, eingeklemmt zwischen Kaffeetisch und Sofa. Nach dem dunklen Fleck am Hosenstall zu urteilen hatte er schon eine Zeit dagelegen, und Denise hatte keine drei Meter daneben an ihrem Schreibtisch gesessen und Rechnungen und Versicherungsformulare bearbeitet. Mom!, hatte Kathryn geschrien. Siehst du nicht, dass Dad da liegt? Denise hatte einen flüchtigen Blick auf ihren Mann geworfen und sich wieder über die Papiere gebeugt. »Och, der hat nichts. Der steht schon wieder auf, wenn er so weit ist.«
Kathryn lachte, als sie zu Ende erzählt hatte. »Ich schwör dir, ich glaub, die hätte den sterben lassen, wenn ich nicht gekommen wäre.«
Man konnte ihn mit nichts erfreuen, nicht wenn man zufällig sein Sohn war, nicht mal wenn man als Nationalheld nach Hause kam. Es war laut hergegangen vor Glück, als Billy in der Tür gestanden hatte, seine Mutter hatte geweint, seine Schwestern hatten abwechselnd gelacht und geweint, Klein-Brian war zwischen ihren Knien herumgeschaukelt und hatte mitgeweint, und dann hatten sich alle in den Armen gelegen wie ein einziger rührseliger großer Klumpen. Ray dagegen hatte im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen. Er hatte nur kurz hochgeguckt, als Billy hereinkam, unverbindlich gegrunzt und sich wieder der Glotze zugewandt. Billy stand da, in Rührt-euch-Haltung, und analysierte die Situation. Färbst ja immer noch die Haare, sagte er. Die steife Schmalztolle des alten Mannes glänzte tatsächlich pechschwarz wie eine frische Öllache. Schöne Stiefel, fuhr Billy fort und deutete mit dem Kinn auf die braunen Straußenfedern, keine einzige abgeknickt. Neu? Rays einzige Antwort war ein kurzer Blick, in seinen Augen funkelte ein gefährlich hoher IQ. Billy kicherte in sich hinein. Er konnte nicht anders. Immer noch derselbe, der Alte, mit seinen bibelschwarzen Haaren und seinem Faible fürKosmetik und Klamotten, diese bonbonrosa schimmernden Fingernägel, für die eine Maniküre ins Haus kam. Sehr groß war Ray nicht, eher von der Statur einer ausgemergelten Grabwespe, und seine scharfen Gesichtszüge gingen gerade noch als gutaussehend durch, aber eine bestimmte Sorte Frauen war trotzdem immer auf ihn geflogen. Kellnerinnen, Friseusen, Empfangsdamen – sobald er den Mund aufmachte, wurden sie zu Hormonmatsch. Er selbst war auf Sekretärinnen spezialisiert, seine eigenen und die von andern. Das war im Verlauf des Prozesses überdeutlich geworden.
»Dein Rollstuhl sieht tipptopp aus. Lässt du den auch polieren?«
Ray reagierte nicht.
»Sieht’n bisschen aus wie ein kleiner Eisglätter, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Ray reagierte immer noch nicht.
»Piept der auch so, wenn du den Rückwärtsgang einlegst?«
Zum Abendessen trug Denise ein sensationelles Chicken Tetrazzini auf. Sie war beim Friseur gewesen. Sie hatte sich geschminkt. Sie wollte, dass alles perfekt ist, was Ray raffiniert hintertrieb, indem er den Fernseher mit Bill O’Reilly extra laut aufdrehte und während des ganzen Essens rauchte. »Tod durch Mitrauchen, der Traum aller Töchter«, seufzte Kathryn in einem wehmütigen Schnulzenton, dann drehte sie sich lachend zu Billy. »Ich sag dir, wenn der sich die ganze Schachtel in den Mund stecken und auf einmal rauchen könnte, der wär überglücklich.« Ray ließ sie links liegen. Er ließ praktisch alle links liegen, und Billy wurde an jenem Abend klarer als je zuvor, wie sehr sie alle ineinander verstrickt waren. Man kann seinen Vater verleugnen, dachte er und beobachtete ihn gegenüber am Tisch. Man kann ihn hassen, lieben, bemitleiden, nie wieder mit ihm reden, ihm
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