Die italienischen Momente im Leben
manchen Nachmittagen hörten wir immer wieder denselben Titel. Wie aufregend, sich anzustellen, ungeduldig zu warten, bis wir an die Reihe kamen, und dabei eine Liste mit möglichen Songs zusammenzustellen und zu hoffen, dass der in der Schlange vor uns eine Platte auswählte, die wir mochten, und wir dann eine andere nehmen und beide hören konnten. Abends, bevor wir uns im Schatten der Mole liebten, redeten wir über die Titel, die wir gern noch gehört hätten und am nächsten Tag wiederhören wollten … Wo Karin wohl heute ist, und wo die alte Jukebox aus dem Strandbad 56 abgeblieben sein mag?
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Amarcord , der Film, den Federico Fellini 1973 drehte, ist eine gefühlte Erinnerung an meine eigenen Jugenderlebnisse in Rimini. Der Titel des Films gehört seit seinem Erfolg als Zitat zu unserem Wortschatz. Der Ausdruck stammt aus dem Dialekt der Romagna und bedeutet: »Ich erinnere mich«. So steht dieses amarcord für Sehnsucht und Nostalgie, für das Nachdenken darüber, »wie wir früher waren«.
Ich bin nach Rimini gekommen, um Nachforschungen anzustellen für eine Hommage an den großen Regisseur, ein Theaterstück, das leider nie zustande kommen sollte. Meine Nichte Francesca lädt mich ein, die Fellini-Stiftung und die vor Kurzem eröffnete Ausstellung zu besuchen. Sie ist wirklich ausgezeichnet, in thematische Rundgänge gegliedert, die durch liebevoll gestaltete Räume voller szenischer Zitate (wie ein Karussell oderein Schiff) führen. Ich könnte mich sehr gut mit den hervorragenden Videos und den Multimedia-Installationen begnügen, um mich vollkommen in die Welt Fellinis versetzt zu fühlen, aber Francesca möchte einen langen Spaziergang an die Originalschauplätze mit mir machen. Wir beginnen in den Straßen des Ortes, kommen an der Tiberiusbrücke vorbei, gehen den Corso d’Augusto entlang – das pulsierende Herz der Stadt – und erreichen das luxuriöse Grand Hotel an der Strandpromenade, ein wunderschönes Jugendstilgebäude, wo Fellini mit seiner Frau Giulietta jedes Mal in der gleichen Suite übernachtete, wenn er nach Rimini kam.
Abends auf der Terrasse des Grand Hotel. Mein Gesicht ist dem Meer zugewandt. Vor mir liegt der Strand, in den inzwischen hypermodernen und mit allem Komfort ausgestatteten Strandbädern wimmelt es immer noch von Touristen. Am Horizont ist nicht die Silhouette des Ozeandampfers Rex aus Amarcord zu sehen, kein hell erleuchteter Dampfer erhebt sich über dem Wasser, dennoch sehe ich im Geist Onkel Titta vor mir, Spitzname » il Pataca «, den Prototyp des Rimini-Playboys, dem eine der komischsten Szenen im Film gewidmet ist.
Nacht. Außen: Die Terrasse des Grand Hotel. Der Pataca, er trägt einen weißen Smoking, tanzt mit einer jungen Ausländerin und fragt sie leise: »Bist du Polin? Nur die Polin, heißt es, hat solches Feuer in den Augen.« Sie antwortet nicht. Er darauf: »Dann musst du Tschechin sein. Nur die Tschechin hat dieses glutvolle gewisse Etwas in den Augen.« Schweigen. Und er: »Schon das Meer gesehen? La mare … luna … Spazierengehen am Strand?« Nichts. Später kommt der Pataca zurück, um zwei Neugierigen auf die Frage zu antworten: »Lallo … wie ging’s?«
»Wie soll’s schon gegangen sein? Mit den deutschen Weibern bin ich immer klargekommen.«
6.
SPOLETO
1982
In Spoleto – die Stadt der Kunst und der Kultur im grünen Umbrien und in der ganzen Welt bekannt wegen ihres Festivals für Theater, Tanz und Musik – befindet sich direkt unter der Stadtfestung Rocca Albornoz und in kurzer Entfernung zum Dom und zur »Brücke der Türme«, dem mittelalterlichen Aquädukt, das »Koedukative Jungen- und Mädcheninternat«. In jenem Sommer 1982 beherbergte es anlässlich des »XXV. Festival dei due Mondi« in einem seiner Schlafsäle die Schüler der Abschlussklasse der »Accademia Nazionale d’Arte Drammatica Silvio D’Amico«. Vierundzwanzig hoffnungsvolle Talente des italienischen Theaters lebten mehr als einen Monat lang auf engstem Raum zusammen wie beim Militär. Eine einzigartige und unwiederbringliche Erfahrung.
Den ganzen Tag zusammen. Dreißig Schlafplätze in Stockbetten, und alle arbeiten fieberhaft auf das große Debüt heute Abend hin. Da wäre zum Beispiel Ugo, der sonst immer so selbst- und textsicher war und der bei der Generalprobe auf einmal eine leichte Form von Gedächtnisverlust erlitt. Alle haben wir ihm versichert, so etwas würde den besten Schauspielern passieren, aber vielleicht liegt es ja auch an den
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