Die Jäger des Lichts (German Edition)
die Ecke. Die Straße ist leer. Wir hören Schritte hinter uns. Es ist Clair.
»Weiterzulaufen wäre Selbstmord«, keucht sie. »Hört ihr die Schreie? Kommt mit zurück zum Zug!«
»Wir wollen Ben aus Krugmans Büro holen«, sagt Sissy. »Ohne ihn fahre ich nicht.«
Die beiden Mädchen starren sich an. Clair spuckt auf den Boden. »Dann komme ich mit. Ich kann euch helfen. Ich kenne den schnellsten Weg dorthin. Und zurück.«
»Clair …«, sage ich.
»Kommt«, sagt sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sie rennt los, sicher, dass wir ihr folgen werden, sprintet durch Gassen und Gänge zwischen den Hütten. Agil und flink fegt sie um Ecken, rennt quer durch Hütten und springt über Zäune. Immer wieder stoßen wir auf Gruppen von Mädchen, die schreiend durch die Gassen rennen, so schnell sie auf ihren Lotusfüßen können. »Lauft zum Bahnhof!«, rufe ich ihnen zu. Aber als ich sie davontippeln sehe, weiß ich schon, dass sie keine Chance haben, den Schattern zu entkommen.
Denn die sind überall und nirgends. Bisher habe ich noch keinen Einzigen von ihnen gesehen, obwohl ihr durchdringendes Geheul um jede Ecke schallt. An der anschwellenden Lautstärke erkenne ich, dass immer noch mehr von ihnen ins Dorf strömen. Der kupferartige Geruch unseres Blutes treibt sie durch die Straßen und Hütten.
»Hier entlang!«, flüstert Clair drängend, und wir rennen noch schneller.
Zwei Häuser vor uns geht eine Tür auf, und ein Mädchen stürzt auf die Straße, weil die Schreie sie in ihrer Panik aus ihrem Versteck gelockt haben. Sie sieht ihn nicht kommen – den schwarzen Sturm, der sie mit sich reißt. Im Handumdrehen wird sie von einer dunklen Gestalt von den Füßen gefegt und zurück ins Haus gezerrt. Die Tür zersplittert, die Schreie des Mädchens vermischen sich mit dem Geheul der Schatter, gehen eine unheimliche, verschlungene Verbindung ein.
Ich packe Clairs Hand und ziehe sie weg. Ihr Arm ist schlaff, fassungslos schleift sie die Füße hinter sich her.
»Krugmans Büro, das ist alles, woran du denkst, okay, Clair? Führ uns dorthin!«
Sie nickt, doch ihr Körper verweigert den Dienst. Sie fängt an zu zittern, ihre Blicke zucken hin und her, während sie versucht, eine Welt zu begreifen, die düster und blutig geworden ist. Sie nimmt ihren Schal ab und wickelt ihn um ihren Kopf.
»Was machst du?«, frage ich.
»Mein weißes Haar verrät trotz der Dunkelheit, wo wir sind.«
»Nein. Angelockt werden sie von dem Geruch von Blut«, sage ich und wickle ihr den Schal wieder um den Hals. »Und das ist im Moment unser Vorteil. Wir wissen genau, wo sie sind. Wo es Geschrei gibt, gibt es Blut, und dortwerden sie sein. Also halten wir uns von den Schreien fern.«
Sie nickt hektisch, ihr Unterkiefer klappert.
»Bleib dicht bei mir, Clair, dann passiert dir nichts. Ich kenne die Viecher, ich habe schon Angriffe von ihnen überlebt. Ich weiß, was sie tun werden, wo, wann und warum. Schau mich an, Clair, sieh mir in die Augen!«
Sie gehorcht, und ich versuche, ihr mit meinem Blick möglichst viel Entschlossenheit und Zuversicht einzuflößen. Ich kann das Blut, das durch ihre Adern rauscht, förmlich hören. Sie nickt langsam und atmet tief durch.
»Hier entlang«, sagt sie. »Wir sind fast da.« Als sie losläuft, sind ihre Schritte wieder kräftig und fest. Schreie – vereinzelte oder häufiger mehrere auf einmal – zerreißen die Nacht, sodass wir immer wieder umkehren und einen Bogen um sie machen müssen.
Verschwommene Umrisse huschen durchs Dorf, beängstigend nah. Zwei Mädchen versuchen, sich mit flehendem Blick und um Hilfe schreiend durch ein Fenster zu zwängen. Sie sind eingeklemmt und schlagen mit den Armen gegen die Außenmauer, bis sie ihre Münder zu einem stummen Schrei aufreißen, ihre Körper erstarren und ihre Augen sich nach innen drehen, sodass nur noch das Weiß des Schmerzes zu sehen ist. Ihre Leiber werden schlaff und hängen aus dem Fenster wie Wäsche an der Leine, bis sie blitzschnell in die Hütte zurückgezerrt werden.
Wir trödeln nicht, sondern sprinten durch eine Folge kleinerer Gassen. »Hierher«, sagt Clair, und plötzlich sind wir auf freiem Feld und rennen auf die Festungsmauer zu. Wie ein Richtpfeil spannt sich über uns das lange Stromkabel zu Krugmans Büro im Eckturm. Aus dem Panoramafenster fällt schimmerndes Licht.
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Mit polternden Schritten rennen wir die Wendeltreppe empor, wobei wir uns mit den Händen am steilen Geländer hochziehen. Alles
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