Die Jäger des Lichts (German Edition)
dem Vollmond.«
»Woher habt ihr diesen Schatter?«, fragt Sissy mit gepresster Stimme.
»Keine Fragen«, sagt die Lehrerin. »Im Immensarium sind Fragen nicht erlaubt.«
»Warum nicht?«
Pause. »So ist es eben.« Diesmal spricht nicht die Lehrerin. Es ist eine Männerstimme. Der Ältere, der tief im Schatten bei der Tür steht.
»Ich will bloß wissen …«
»Weitermachen«, weist der Ältere die Lehrerin schroff an.
Epap beugt sich zu Sissy. »Jetzt kommt der beste Teil«, flüstert er aufgeregt.
Die andere Lehrerin schleppt einen bluttriefenden Sack durch den Mittelgang, geht an der Scheibe entlang und an einer Tür vorbei, die mir jetzt zum ersten Mal auffällt. Das hat seinen Grund: Sie ist kaum zu erkennen, nur eine in das Glas geritzte, rechteckige Kontur mit einer schmalen Klinke an der Außenseite, davor ein elektronisches Tastenfeld.
Ich richte mich kerzengerade auf. »Niemals! Sagt mir, dass diese Tür nicht geöffnet wird.«
Die Lehrerin bleibt kurz stehen. »Natürlich nicht. Sei nicht albern.« Sie trägt den Sack an der Tür vorbei.
»Lässt sich diese Tür überhaupt öffnen?«, frage ich.
»Hä?«, fragt die Lehrerin keuchend zurück.
»Die Tür mit dem Zahlenfeld.«
»Keine Sorge, sie ist sicher. Immer verschlossen. Nur die höchsten Älteren kennen die Kombination.«
»Wofür wird sie benutzt? Ist es nicht viel zu riskant …«
»Keine Fragen!«, dröhnt die Stimme des Älteren so laut, als hätte jemand eine Tür zugeknallt.
Die Lehrerin schleppt den Sack an den Rand der Scheibe. Der Schatter beobachtet sie und rennt dann zu einem viereckigen Wasserbecken direkt neben dem Glas, das mir bisher nicht aufgefallen war. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel, das Becken absolut quadratisch und kaum einen Meter breit. Der Schatter bleibt direkt davor stehen, aufgewirbelte Erdkrumen fallen hinein und kräuseln die Oberfläche.
»Schatter lieben Menschenfleisch«, sagt die Lehrerin, »aber sie verschlingen auch gierig jedes tierische Fleisch. Heute haben wir Schwein.«
In diesem Moment fällt mir ein zweites quadratisches Becken auf, direkt vor den Füßen der Lehrerin und exakt genauso groß. Direkt an der Scheibe stoßen die beiden Becken aneinander, als wäre das eine die Spiegelung des anderen. Die Lehrerin lässt den Sack platschend in das Außenbecken fallen, wo er zu meiner Überraschung kurz untergeht, bevor er wie ein Korken wieder auftaucht.
»Dies ist ein u-förmiger Brunnen«, erklärt die Lehrerin Sissy und mir. »Ein Schacht endet in der Kammer, der andere hier auf der Außenseite. Beide sind in mehreren Metern Tiefe durch einen bogenförmigen Quertunnel miteinander verbunden. Die beiden Öffnungen befinden sich, wie ihr seht, hier vor meinen Füßen und …« Sie wirft einen Blick durch die Scheibe. »… vor den Füßen des Schatters. Dieser u-förmige Schacht steht komplett unter Wasser. Da Schatter nicht schwimmen können – die dummen Dinger könnten in einer Pfütze ertrinken –, ist er absolut sicher. Schatter haben tatsächlich eine so starke Abneigung gegen Wasser,dass manche von uns vermuten, dieser u-förmige Schacht sei der sicherste Teil dieser Kammer. Ich persönlich finde ihn absolut genial, so einfach und doch so brillant. Dadurch können wir den Schatter auch mit größeren Brocken wie diesem Schweinefleisch füttern, die nicht durch den schmalen Schlitz passen.«
Die Lehrerin zieht eine Stange unter einer Sitzreihe hervor und stößt den Sack damit tiefer in den Schacht. Als der Stab beinahe ganz untergetaucht ist, hält sie ihn schräg zur Scheibe und ruckelt vorsichtig daran. Dann zieht sie ihn zufrieden wieder heraus. »So, gleich sollte der Sack drüben wieder auftauchen. Wir müssen nur warten. Es kann nicht lange dauern.«
Das Schatter-Mädchen hockt auf allen vieren und starrt, das Kinn fast im Wasser, angestrengt in die Öffnung. Sein Körper bebt vor Erwartung, Speichelfäden tropfen in das Becken. Das Licht wird schwächer, und die Lehrerin knackt noch ein paar GlühBrenns. Es zuckt vor dem Licht zurück, rührt sich jedoch nicht von der Stelle. Es hat sein langes schwarzes Haar nach vorn geworfen, um sein Gesicht zu bedecken, als wollte es seine Scham verbergen. Dann beugt es sich noch tiefer nach unten und taucht, den Kopf mit verzerrtem Gesicht Zentimeter über der Oberfläche zur Seite gedreht, einen Arm bis zur Achselhöhle ins Wasser.
Es zieht den Sack heraus und reißt ihn auf. Wasser- und Speicheltropfen spritzen gegen die
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