Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
scherte, weshalb er allenthalben als „komischer Kauz“ galt. Dienstags und donnerstags sei er in den Ort gekommen und habe eingekauft.
Verhoevens Finger spielten mit dem Henkel seiner Kaffeetasse. Es war das relativ dichte und glaubhafte Bild eines Sonderlings, das die Kollegen gezeichnet hatten. Und doch fühlte er sich zutiefst unbefriedigt. Er wusste, er war nicht durchgedrungen zu diesem Mann. Und er hatte nichts von dem in Erfahrung gebracht, was man gemeinhin den „Hintergrund“ einer Tat nannte.
Wozu die Mühe?, höhnte der Beamte, mit dem er in der Hütte gesprochen hatte, hinter seiner Stirn. Es ist doch alles klar…
„Nichts ist klar“, murmelte Verhoeven ärgerlich. Aber was spielte das für eine Rolle? Das Ganze war eine Sache für den Staatsanwalt. Oder?
Er spulte das Tonband zurück und lauschte noch einmal Jasper Fennrichs brüchiger Stimme. Vielleicht hatte ich einen guten Grund …
Was war das für ein Mensch, der da sprach? Ein müder alter Mann? Ein komischer Kauz, der zwis chen Bergen von Abfall hauste? Ein Messie, wie es neudeutsch hieß, einer, der im Chaos lebte, der sein Leben, die banalsten Dinge des Alltags einfach nicht mehr im Griff hatte? Oder war es jemand, der jähzornig sein konnte? Ein Kerl, der urplötzlich durchdrehte, nachdem seine arme, verschreckte Ehefrau ihn durch irgendeine unwichtige Kleinigkeit provoziert hatte?
Sie werden nichts finden , knurrte die Stimme auf dem Band in einem Tonfall, den Verhoeven noch immer nicht deuten konnte.
Was sollte ich denn finden?, hörte er seine eigene Stimme fragen. Und gleich darauf noch einmal: Was werde ich nicht finden?
Danach Stille.
Stille und wieder die Stimme des Alten.
Nichts , hatte er gesagt, und die Müdigkeit, mit der er dieses eine Wort ausgesprochen hatte, vermittelte sich sogar rein akustisch.
Verhoeven vergrub das Gesicht in den Händen. Eine alte Frau, die tot in ihrem Bett lag, und ein müder alter Mann, der behauptete, sie getötet zu haben ...
Er drückte auf die Stopp-Taste, raffte seine Notizen zusammen und verließ das Zimmer. Doch als er in den Vorraum der Dienststelle trat, sah er sich unvermittelt einem bekannten Gesicht gegenüber. „Sven?“
Sven Brüning zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er war ein entschieden maskuliner Mann von Mitte fünfzig und kannte Verhoeven seit dessen Ausbildung, im Zuge derer Verhoeven zwei Fortbildungen bei ihm absolviert hatte.
Brünings Abteilung war für die überregionalen Vermisstenfälle zuständig und genoss den Ruf, besonders erfolgreich zu sein. Brüning selbst galt als machtbewusster, aber umgänglicher Vorgesetzter. Einer, der von seinen Leuten erwartete, dass sie ihm vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung standen und der wenig Verständnis aufbrachte, wenn jemand am Abend nach Hause zu seiner Familie wollte. Im Gegenzug stellte er sich jederzeit bedingungslos vor seine Untergebenen, bügelte deren Fehler aus und war sich auch nicht zu schade, mit seinen Mitarbeitern nach Dienstschluss noch ein Bier zu trinken, wobei er nicht selten derjenige war, der die Rechnung übernahm.
„Hendrik?“ Er streckte Verhoeven kopfschüttelnd die Hand entgegen. „Habe ich was verpasst?“
„Wieso?“
Doch Brüning antwortete mit einer Gegenfrage: „Hat man sie gefunden?“
„Wen?“, erkundigte sich Verhoeven zunehmend verwirrt.
„Corinna Schilling .“ Seine wachen graugrünen Augen wanderten prüfend über Verhoevens Gesicht. „Sie ist doch nicht etwa tot, oder?“
„Wer ist Corinna Schilling?“
„Das Mädchen, das seit gestern früh vermisst wird.“ Seine Miene entspannte sich angesichts der offenkundigen Unkenntnis seines Kollegen. Er trug ein kurzärmliges weißes Hemd zu grauen Bundfaltenhosen, die bequem aussahen, ohne ihrem Träger ein allzu legeres Aussehen zu verleihen. „Einen Moment lang dachte ich wirklich, dass du ihretwegen hier bist.“
Verhoeven verneinte. „Wir untersuchen einen Mord in der Gegend. Ein Mann behauptet, seine Ehefrau getötet zu haben.“ Er stutzte, als ihm schlagartig bewusst wurde, was der Kollege von der Vermisstenabteilung da gerade gesagt hatte. Und vor seinem inneren Auge erschien das Gesicht Jasper Fennrichs. Wettergegerbte Unergründlichkeit.
Soweit ich weiß, gab’s mal Gerüchte, flüsterte der Beamte aus der Hütte. Er soll ein Kind entführt haben.
Verhoeven hob den Kopf. „Was ist das für ein Mädchen, das ihr sucht?“, erkundigte er sich mit wachsendem Interesse.
„Sie ist hier aus
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