Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
das passiert, warte ich ein paar Tage. Und dann mache ich einen neuen.
Jasper bemerkt es natürlich. Er sieht, dass die Schere nicht genau am selben Platz liegt wie morgens, als er das Haus verlassen hat. Oder dass ich wieder das Deckblatt von seinem Gartenjournal abgerissen habe, das er auf einmal doch noch braucht, obwohl das Heft schon seit Tagen in der Kiste neben den Kohlen liegt. Es ist, als ob er einen Radar hätte was diese Dinge betrifft.
„Wo ist eigentlich dieser Artikel über das neue Schneckenmittel?“, fragt er dann plötzlich, abends beim Fernsehen. Und ich weiß genau, was dann kommt, wenn er so fragt. Aber ich warte geduldig, bis er anfängt, durch die Hütte zu rennen und jede Schublade und jede Kiste aufzureißen. Und wenn er dann immer wütender wird, weil er nicht findet, was er sucht, stehe ich auf und gehe vor die Tür und versuche, seine Flüche zu überhören und die Drohungen auch.
Stattdessen denke ich daran, was er zu mir gesagt hat, bevor wir geheiratet haben. „Ich kümmere mich um dich“, hat er gesagt. „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“ Und dann geht es mir besser, auch wenn ich im Grunde nie so ganz verstanden, warum er glaubte, sich um mich kümmern zu müssen. Aber es klang schön, das gebe ich zu. Also blieb ich. Bis heute.
Ich würde auch gar nicht mehr weg wollen. Das mit zu Hause, das war was anderes. Da bin ich eines Tages einfach zur Tür rausgegangen und das war’s. Aber Jasper verlassen?
Nee, auf diesen Gedanken bin ich noch nie gekommen. Schließlich muss man irgendwann irgendwo bleiben, nicht wahr? Alle Menschen tun das. Und mein Zuhause ist jetzt diese komische kleine Hütte mit der froschgrünen Tür und dem Blick über den See. Und ich mag diesen Ort, mochte ihn vom ersten Augenblick an, weil ich hier so ruhig sein kann.
Wenn man eine derart turbulente Kindheit hatte wie ich, weiß man so was zu schätzen! Aber ich merke gerade, dass ich mein erstes „zu Hause“ in zwei Worten geschrieben habe. Mein Vater hat immer gesagt, das sei das Wunderbare an der deutschen Sprache, dass man bei uns „Zuhause“ in einem Wort schreiben könne. Angeblich geht das in keiner anderen Sprache der Welt ...
Aber vielleicht haben sie das inzwischen ja auch geändert. Sie haben eine Menge geändert, das sehe ich an Jaspers Zeitungen, und er schimpft auch viel herum, seit alles ganz anders geschrieben wird, als er es irgendwann mal gelernt hat. „Trenne nie ST, denn es tut ihm weh“ oder so was. Aber ich finde ein bisschen Abwechslung eigentlich ganz reizvoll. Und wer weiß, vielleicht war ich damals in der Schule auch nur meiner Zeit voraus, wenn ich mal wieder alles anders geschrieben hatte als meine Mitschüler …
Wirklich jammerschade, dass man nicht in die Zukunft sehen kann, sonst hätte ich ein gutes Argument gegen die Wutreden meines Vaters gehabt!
Ich wüsste ja gern, ob meine Eltern noch leben. Aber Jasper sagt es mir nicht, obwohl ich ihn schon tausendmal danach gefragt habe. Er brummt nur, dass mich das nicht zu scheren habe. Aber es sind nun mal meine Eltern, und da schert es mich eben doch ein bisschen …
Wie auch immer, jetzt mache ich besser Schluss, sonst kommt er zurück, bevor ich die Schreibsachen versteckt habe. Zum Glück weiß ich einen Ort, an dem er sie niemals finden wird.
Bis dann, Welt,
Lilli
6
Verhoeven nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ihm einer der örtlichen Kollegen gebracht hatte, und ging noch einmal die Notizen durch, die er sich unmittelbar nach der Vernehmung gemacht hatte. Ein Tonbandmitschnitt allein war ihm nicht geeignet erschienen, das Gespräch mit Jasper Fennrich angemessen wiederzugeben. Und er hatte das Gefühl, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem er auf Zwischentöne angewiesen war. Auf Eindrücke. Kleine Beobachtungen am Rande, die ihm entfallen würden, wenn er sie nicht umgehend schriftlich festhielt.
Er hatte Fennrichs Überführung ins Untersuchungsgefängnis veranlasst, das Protokoll seiner ersten Befragung durch die örtlichen Polizeikräfte gelesen und mit den Beamten gesprochen, die ihn verhaftet hatten. Dabei hatte er erfahren, dass Fennrich aus Lüneburg stammte und seit beinahe einem halben Jahrhundert in der Hütte am Weiher lebte. Er sei viel herumgestreift, hieß es. Allein, zu Fuß und meistens im Wald, ganz so wie einer, den etwas umtrieb. Ein einsamer Wolf, der nicht viele Worte machte und sich einen feuchten Kehricht um seine Mitmenschen
Weitere Kostenlose Bücher