Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
dem Ort“, antwortete der Brüning. „Vier Jahre alt. Sie hat gestern früh im Garten ihrer Tagesstätte gespielt und ist dann irgendwann kurz ins Haus gegangen, um ein Spielzeug zu holen. Seither ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Die Erzieherinnen haben nichts gesehen oder gehört, was kein Wunder ist, wenn man die Personalsituation in den Betreuungseinrichtungen bedenkt.“ Er seufzte. „Sag mal, hast du nicht auch ein Kind in dem Alter?“
Die Überleitung ließ Verhoeven frösteln. „Eine Tochter“, räumte er zögernd, fast widerwillig ein. „Ihr Name ist Nina.“
„Wie alt?“
„Sie wird fünf morgen.“
„So, so.“ Brünings Lächeln fiel eher unverbindlich als herzlich aus. „Tja, sie werden viel zu schnell erwachsen, wenn du mich fragst. Mein Jüngster studiert jetzt im sechsten Semester. Philosophie und Theologie.“ Er rümpfte die Nase. „Hat keinen blassen Schimmer, was er damit anfangen will, aber mangelnde Zielgerichtetheit entspricht ja wohl dem allgemeinen Zeitgeist. Sich niemals wirklich festlegen, immer alle Möglichkeiten offen halten und dieser ganze Quatsch. Aber wehe, du wagst einen dezenten Hinweis darauf, dass die paar Kurse Schopenhauer und Bibelkunde pro Semester ja wohl genügend Raum für einen Nebenjob ließen …“ Er lachte freudlos. „Dann kommen sie dir mit Vorwürfen von wegen schlechter Vater und nie Zeit gehabt. Und wenn du nicht …“
Das Geräusch seines Beepers unterbrach seine Betrachtungen.
Brüning warf einen flüchtigen Blick auf die Anzeige und schüttelte dann energisch den Kopf. „Oh nein, mein Freund, nicht heute“, murmelte er. „Ich kann mir schon denken, was du auf dem Herzen hast, aber da kannst du dich auf den Kopf stellen .“ Er schob das Gerät an seinen Gürtel zurück und sah wieder Verhoeven an. „Und sonst?“
„ Alles bestens.“ Er räusperte sich. „Habt ihr denn schon irgendeine Spur, was das vermisste Mädchen angeht?“
Brüning nickte. „Der Vater lebt von der Familie getrennt und hat schon früher immer wieder mal damit gedroht, die Kleine zu entführen, falls seine Ex nicht zu ihm zurückkehrt. Die Fahndung läuft.“
„Also eine familiäre Geschichte?“
„Davon gehe ich aus“, entgegnete er. „Wenn wir den Vater haben, und das Kind ist nicht bei ihm, können wir immer noch weitersehen.“ Er deutete auf die leere Kaffeetasse in Verhoevens Hand. „Wo gibt‘s den?“
„Im Aufenthaltsraum am Ende des Korridors steht eine Thermoskanne.“
„Leistest du mir Gesellschaft?“
Verhoeven warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. „Fünf Minuten“, sa gte er und folgte dem Kollegen in einen großen, annähernd quadratischen Raum am Ende des Ganges, in dem es neben den verschiedensten Sitzgelegenheiten auch einen Kühlschrank undeine kleine Spülküche gab.
Sie nahmen sich Kaffee und setzten sich an den vordersten von drei Tischen, dessen Platte mit eingetrockneten Kaffeeflecken übersät war.
Verhoeven goss zwei Portionen Kaffeesahne in seinen Becher und musterte Brüning, der nur unwesentlich gealtert war, seit sie einander zum ersten Mal getroffen hatten. Ein bisschen Grau an den Schläfen, ein paar sehr reizvolle Linien um Mund und Augen. Das war alles. „Warum tötet ein Mann die Frau, mit der er seit über dreißig Jahren zusammenlebt?“, fragte er mitten in die Stille, die sich zwischen ihnen breitgemacht hatte.
Brüning gab die unbefriedigendste aller Antworten: „So etwas kommt vor.“
„Aber warum?“ Verhoeven nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der alt und bitter war und trotz des hohen Sahneanteils einfach nur abscheulich schmeckte. „Ich meine, selbst wenn diese Ehe die Hölle gewesen ist und er sich ein halbes Leben über seine Frau geärgert hat, müsste es doch einen Grund geben, einen Auslöser. Du weißt schon, den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“
Sein ehemaliger Lehrer schmunzelte. „Wie lange bist du jetzt verheiratet?“, fragte er mit diesem überheblichen Ausdruck um die Mundwinkel, den Verhoeven schon immer an ihm gehasst hatte.
„Fünf Jahre und sechseinhalb Monate“, antwortete er provozierend genau. „Was hat das mit meinem Fall zu tun?“
Brüning antwortete nicht.
„ Du willst doch nicht behaupten, dass es am Ende tatsächlich eine offene Zahnpastatube ist, die eine Beziehung zerrüttet, oder?“
Er sah hoch, mit einem Schlag todernst. Doch das war nicht ungewöhnlich für ihn. Verhoeven wusste aus Erfahrung, dass
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