Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
gegangen. Und während sie draußen war, muss etwas geschehen sein, das sie zutiefst beunruhigt hat.“
Winnie Heller gab ein zustimmendes Brummen von sich, während sie schon wieder las. „Und an anderer Stelle schreibt sie dass sie schon den ganzen Tag Dinge hört oder sieht, die gar nicht existieren.“ Ihre Augen glitten über den Text. „Sehen Sie, hier! An dieser Stelle spricht sie ausdrücklich von Rehen und Stimmen und Schatten. Allerdings tut sie das Ganze als eine Art wärmebedingte Halluzination ab.“
„Und was, wenn es nicht an der Hitze gelegen hat?“, fragte Verhoeven. „Wenn etwas von dem, was Lilli Dahl zu hören oder zu sehen glaubte, tatsächlich real gewesen ist?“
„Sie meinen, jemand hat sie am Tag ihres Todes beobachtet?“
„Wäre doch möglich, oder?“
Sie blickte zu den bewaldeten Hügeln hinüber, die den Weiher wie ein schützender Wall umgaben. „Ihr Mann?“
„Nicht zwingend “, widersprach er. „Aber wenn es auch nicht Fennrich selbst war, muss es doch zumindest jemand gewesen sein, der wusste, dass er Lilli Dahl hier draußen finden kann.“
Sie schlug wieder nach einer Mücke. „Wirklich jammerschade, dass die sie keine Gelegenheit mehr hatte, uns und dem Rest der Welt von diesem Abenteuer, das sie angeblich erlebt hat, zu berichten, was?“
Er nickte. „Wir müssen rekonstruieren, was Fennrich am Tattag getan hat. Und wir müssen klären, wer ihn wann und wo gesehen hat.“
„Unbedingt“, stimmte sie ihm zu.
„Und noch was ...“
„Ja?“
„Machen Sie Kopien von den Aufzeichnungen und schicken Sie die Originale ins Labor. Ich will wissen, ob jemand außer Lilli Dahl diese Blätter in der Hand hatte.“
8
„Aber warum?“ Burkhard Hinnrichs, der Leiter des Kommissariates 11 der zentralen Kriminaldirektion Wiesbaden, lehnte sich in seinem trutzigen Ledersessel zurück und musterte Verhoeven mit einer Mischung aus Unverständnis und Neugier. „Die Sache scheint doch sonnenklar zu sein.“
Verhoeven reagierte nicht. Vor seinem inneren Auge stand die Matratze, auf der Lilli Dahls Leiche gelegen hatte und die er sich kurz vor seinem Aufbruch von der Hütte noch einmal eingehend betrachtet hatte. Sie war erschreckend schmutzig gewesen, über und über befleckt. Aber womit? Er dachte an seine Kindheit und fast war es ihm, als fühle er wieder die Wärme seines Urins zwischen den Beinen. Und auch die Schläge seines Pflegevaters auf sein nacktes Hinterteil. Der Mann, den er zeit seines Lebens nur Schmitz genannt hatte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn vorher trockenzureiben.
Was heulst du schon wieder, du elender kleiner Hosenpisser?
Verhoeven starrte auf die Schreibtischkante und zwang sich, seine Gedanken wieder auf Lilli Dahl zu lenken. Hatte sie auch ins Bett gemacht? Und wenn ja, warum? Im Todeskampf? Oder regelmäßig?
Bettnässen deutet auf schwerwiegende seelische Belastungen hin , so oder so ähnlich hatte es in den Büchern gestanden, die er sich als Abiturient besorgt hatte, heimlich und voller Scham. Aber er hatte unbedingt wissen wollen, was da nicht stimmte mit ihm. Warum er, der sich durchaus für einen disziplinierten und gesunden Menschen hielt, Jahre gebraucht hatte, um mit etwas aufzuhören, das in keiner Weise zu ihm passte. Er biss sich auf die Lippen, und dachte wieder an seinen Pflegevater. In seiner Erinnerung gab es zu diesem Thema nur zwei Bilder: Schmitz im Türrahmen, polternd und schreiend. Und Schmitz mit Windeln, hilflos wie ein Baby, nachdem zwei Schlaganfälle ihn mit gerade einmal achtundsechzig Jahren zunächst in ein schäbiges Pflegeheim und schließlich, zwei Jahre später, endgültig in die Hölle katapultiert hatten.
Verhoeven erinnerte sich minutiös an seinen einzigen Besuch in dem kleinen Zimmer mit der Nummer 344. Er hatte seinem Pflegevater die billige Polyesterdecke weggerissen und sich alles ganz genau angesehen. Lange, entwürdigende Blicke auf blaugeäderte Beine und auf die Windeln, für die sich der übermännliche Schmitz so sehr geschämt hatte, dass ihm Tränen in den Augen gestanden hatten.
Jetzt bist du derjenige, der ins Bett pisst. Das war das letzte, was er zu seinem Pflegevater gesagt hatte. Danach war er gegangen und nie mehr zurückgekehrt …
„Hendrik?“
Er zuckte zusammen.
„Hören Sie mir zu?“
„Natürlich“, gab er eilig zurück. „Und ich gebe auch zu, dass dieser Fall mehr als eindeutig aussieht . Nur leider gibt es kein ersichtliches
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