Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
nach der Kassette, die durch den Aufprall herausgeschleudert worden war. Sie hatte das Band nur ein oder zwei Mal gehört, und auch das mehr pflichtschuldig als mit Genuss. Wenn sie ehrlich war, hatte es sie enttäuscht, dass Elli, die durch die zahlreichen Konzerte und Wettbewerbe ohnehin meist im Mittelpunkt stand, ihr ausgerechnet zu ihrer Volljährigkeit ein Geschenk machte, das sich schon wieder ausschließlich um sie und um ihr dummes Klavier drehte. Eine Dokumentation ihres außerordentlichen Talents, eine Art Hommage an die begnadete Nachwuchspianistin, so hatte sie das Geschenk ihrer Schwester damals empfunden. Jetzt allerdings, mit dem Abstand von beinahe zehn Jahren, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Elli hatte nicht aufschneiden wollen, damals. Ganz im Gegenteil: Diese Kassette war der Versuch gewesen, mit ihrer großen Schwester das zu teilen, was ihr selbst am wichtigsten war ...
Für Winnie – von Elli , stand in einer schönen, akkuraten Kinderschrift auf dem Pappeinleger der Hülle. Darunter waren die Komponisten und Titel sämtlicher Stücke vermerkt, die Elli für die Aufnahme ausgewählt hatte. Sogar die Laufzeiten hatte sie penibel genau gestoppt und aufgeschrieben: Chopin, Prelude op. 28, Nr. 17, As-Dur, zwei Minuten und neunundvierzig Sekunden …
Winnie merkte, wie ihr schwindlig wurde.
Hastig stopfte sie das Band wieder in die Hülle und warf die Kassette in den Schrank zurück, so weit nach hinten wie nur irgend möglich. Dann nahm sie sich die Pullover vor und faltete einen nach dem anderen neu zusammen. Ein lächerlich nutzloses Unterfangen, das einzig und allein dem Zweck diente, sich abzulenken von dem Schmerz, den die neu gewonnene Erkenntnis mit sich brachte.
Nicht denken , hämmerte es hinter ihrer Stirn. Du darfst nicht darüber nachdenken. Du musst vergessen, dass dieses Band existiert. So wie du es in den letzten acht Jahren vergessen hattest. Verdrängung ist etwas, in dem du ziemlich gut bist. Also hör, verdammt noch mal, endlich auf, über deine tote Schwester nachzudenken. Über das, was du nicht gesagt hast, über die Gespräche, die ihr nie geführt habt, und über das, was hätte sein können …
Das Zimmer um sie herum schien immer enger zu werden. Hektisch fuhr sie sich mit beiden Händen durch die völlig verschwitzten Haare. Was für ein Wochentag war heute? Mittwoch? Sie nickte. Ja, genau. Heute war Mittwoch. Mittwoch, der 25. Gut, okay, so viel zum Thema Überblick. Nächster Schritt: Was konnte man an einem Mittwochabend gegen … Sie sah auf die Uhr … Gegen Viertel nach zehn unternehmen, wenn man keine Freunde hatte, denen man vertraute. Keine Familie, bei der man zwanglos vorbeischauen und sich mit Kuchen oder selbst gebackenen Salzstangen trösten lassen konnte?
Ich habe ja nicht einmal mehr eine Schwester, die mir zuhören muss, weil sie im Koma liegt, dachte Winnie bitter, und einen Augenblick lang war sie versucht, zum Handy zu greifen und Lübke anzurufen, um sich auf einen Drink in ihrer Stammkneipe, dem Luigi’s, zu verabreden. Doch irgendetwas – wahrscheinlich ihr Stolz – hielt sie davon ab.
Dieser Kerl ist dreiundfünfzig Jahre alt, rief sie sich selbst zur Ordnung. Und wenn er so weitermacht, trifft ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in spätestens fünf Jahren der Schlag. Ganz abgesehen davon, dass sie mit denselben Leuten zusammenarbeiteten. Dass sie beinahe tagtäglich miteinander umgehen mussten. Da kam es nicht gut, wenn man zu viel über den anderen wusste. Nicht, wenn man ihren Job machte …
Wenn doch bloß schon wieder Freitag wäre , dachte sie in wachsender Verzweiflung. Eine Runde Poker, ein paar Bier, und die Welt würde schon viel freundlicher aussehen!
Sie müssen sich Ihrem Schmerz stellen , flüsterte der allgegenwärtige Dr. Zilcher in ihrem Kopf. Wenn Sie weiterhin nur davonlaufen, wird dieser Schmerz Sie zu einem Zeitpunkt einholen, den Sie nicht selbst bestimmen können …Wollen Sie das?
„Du kannst mich, du Arsch“, rief Winnie, indem sie sich ihr Portemonnaie in die Hosentasche stopfte und zur Tür stürzte. Dort riss sie die Wohnungsschlüssel vom Haken neben der Gegensprechanlage und flüchtete in die anbrechende Nacht hinaus.
ZWEI
1
Donnerstag, 26. Juli 2007
„Ich will keinen Hut.“
„Warum nicht?“
Nina Verhoeven hatte ihre milchzarte Stirn in tiefe, unwillige Falten gelegt, während sie sich im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete.
Weitere Kostenlose Bücher