Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Verstecken muss gut vorbereitet sein. Schließlich muss sie essen. Und dass es sich auf einem nackten Steinboden nicht besonders gut schläft, hat sie auch schon raus. Und überhaupt, wo soll sie Vorräte auftreiben? Der Kühlschrank zu Hause ist leer bis auf ein paar Flaschen billigen Prosecco und diesen Diätjoghurt, den sie nicht ausstehen kann.
Okay, im Tiefkühlfach ist jede Menge Zeug, aber dazu braucht man eine Mikrowelle. Oder wenigstens den Backofen. Früher, als Mama noch viel öfter fort war, hat sie mal versucht, eine gefrorene Pizza zu essen. Mann, waren das vielleicht Bauchschmerzen! Und Mama hatte geschimpft und geweint. Und beinahe hätten sie zu einem Arzt gemusst deswegen. Seit damals weiß sie, wie man mit der Mikrowelle umgeht, so dass sie wenigstens nicht mehr Gefahr läuft zu verhungern, wenn ihre Mutter mal wieder vergisst, nach Hause zu kommen. Aber das ist viel seltener geworden, seit das Jugendamt bei ihnen war. Eine große dunkle Frau mit einer roten Brille, die eine halbe Ewigkeit mit Mama gesprochen und dann ein paar Sachen zusammengepackt hatte. Und dann waren sie zu einem Haus gefahren mit vielen anderen Kindern. Es hatte Wochen gedauert, bis Mama sie wieder abgeholt hatte. Und danach war die Frau mit der roten Brille noch ein paar Mal wiedergekommen und hatte sich ihr Zimmer angesehen. Und sie hatte viele Fragen gestellt: Ob Mama denn jetzt immer zu Hause wäre und ob sie denn auch jeden Tag etwas Warmes äßen und so was alles.
Sie hatte immer nur mit „Ja“ gesagt, weil sie alles lieber wollte, als wieder in diesem Haus mit den fremden Kindern wohnen, wo sie sich ein Zimmer mit drei anderen teilen musste. Und es stimmte ja auch, was sie gesagt hatte: Mama war jetzt wirklich fast immer zu Hause. Zum Glück!
Vorsichtig beugt sie sich wieder ein Stück nach vorne, das Gesicht ganz dicht über dem Boden , denn so tief gucken die meisten Leute gar nicht. Auch so eine Erfahrung, die sie erst vor kurzem gemacht hat.
Sie sieht zu den Häusern, aber der Scheißkerl ist nirgends zu sehen und sein Wagen auch nicht. Ob er am Ende schon wieder fort ist? Dass er dort wohnt, glaubt sie keine Sekunde. In diesen Häusern leben nur alte Leute mit Stöcken und Gehhilfen, vor allem in dem Haus mit den lila Fensterrahmen. Und so alt ist der Scheißkerl nun auch wieder nicht. Aber wenn er nicht dort wohnt, was hat er dann überhaupt dort zu suchen? Und wo ist er jetzt?
Sie lehnt den Rücken gegen das warme Holz und wartet.
Erst, als sie ganz sicher ist, dass er nicht zurückkommt, wagt sie sich aus ihrem Versteck und geht nach Hause.
7
Als Verhoeven ihr improvisiertes Büro betrat, fand er Winnie Heller vor einer groß dimensionierten Wandkarte, die das Gebiet von Brixenheim sowie der angrenzenden Gemeinden zeigte.
Sie sparte sich jede Floskel der Begrüßung und redete einfach los: „Edda Benders Sandalette wurde etwa hier gefunden, im Uhlenforst.“ Ihr Finger glitt über eine grau schraffierte Fläche im Süden des Ortes. „Am Abend ihres Verschwindens hat sich außerdem ein Zeuge gemeldet, der das Mädchen gegen ein Uhr mittags dort gesehen haben will. Und zwar …“ Sie warf einen Blick auf ihren Notizzettel und markierte die Stelle anschließend mit einer bunten Nadel. „Etwa hier, am Waldrand.“
Verhoeven trat hinter sie.
„Der Zeuge hat zum betreffenden Zeitpunkt auf einem dieser Felder gearbeitet.“ Ihre Hand kreiste über einem Gebiet nordwestlich des Uhlenforstes. „Die Kollegen haben seine Aussage überprüft. Die Entfernung ist zu groß, um Details zu erkennen. Fest steht also lediglich, dass der Mann ein Kind gesehen hat. Ein Kind in einem hellen Sommerkleid.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Dass es vielleicht gar nicht Edda Bender war, die dort am Waldrand ging. Vielleicht war es ein anderes Kind.“
„Meinen Sie?“
Anstelle einer Antwort lief sie zum Tisch und nahm eine der Kopien, die sie dort ausgebreitet hatte, zur Hand.
Verhoevens Blick streifte den Verband an ihrer Hand, und er überlegte, ob er sie danach fragen sollte. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab.
„In ihrem letzten Eintrag schreibt Lilli hier nämlich auch etwas sehr Seltsames.“ Langsam, die Augen fest auf den Text des Briefes gerichtet, kam sie wieder zur Karte zurück. „Es ist mir zuerst gar nicht weiter aufgefallen, aber sie schildert erst die Suchaktion der Polizei und dann schreibt sie hier plötzlich, ich zitiere: Hunderte von Polizisten streiften durch den
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