Die Jahre des Schwarzen Todes
an. Dann blickte er zu ihr auf und sagte etwas. Eliwys wandte den Kopf zur Seite, daß Kivrin ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, aber sie sah Gawyns.
Und alle anderen im Raum konnten ihn sehen, dachte Kivrin und ließ ihren Blick rasch in die Runde gehen, um zu sehen, ob das Paar beobachtet worden war. Imeyne war in ihr Gespräch mit dem Kaplan vertieft, aber Sir Bloets Schwester beobachtete die beiden mit zusammengepreßten Lippen, und von der anderen Seite des Feuers blickten auch Bloet und die anderen Männer herüber.
Kivrin hatte auf die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Gawyn gehofft, aber das ließ sich unter all diesen wachsamen Leuten offensichtlich nicht bewerkstelligen. Eine Glocke läutete, und Eliwys schrak zusammen und blickte zur Tür.
»Es ist des Teufels Grabgeläute«, sagte der Kaplan ruhig, und selbst die Kinder hielten in ihrem Spielen inne, um zu lauschen.
In manchen Dörfern hatten die Bewohner die Gewohnheit angenommen, ihre Kirchenglocke für jedes seit der Geburt Christi vergangene Jahr einmal zu läuten. In den meisten Dörfern wurde nur während der Stunde vor Mitternacht geläutet, und Kivrin bezweifelte, ob Roche oder der Kaplan weit genug zählen konnte, um die Jahre zu läuten, aber wie unter einem inneren Zwang zählte sie mit.
Drei Diener kamen mit Brennholz herein und legten nach. Nicht lange, und das Feuer loderte prasselnd auf und warf riesige, verzerrte Schatten auf die Wände. Agnes sprang auf und zeigte hin, und einer von Sir Bloetes Neffen machte mit seinen Händen ein Kaninchen.
Mr. Latimer hatte ihr erklärt, daß die mittelalterlichen Menschen in den Schatten, die der brennende Julblock warf, die Zukunft gelesen hatten. Was mochte die Zukunft für diese Menschen bereithalten? Der Hausherr vor einem Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang, und sie alle in Gefahr, ihrer Besitzungen verlustig zu gehen, wenn sie im Falle einer Verurteilung vom König eingezogen wurden. Vielleicht würden sie gezwungen sein, in Frankreich zu leben, oder von Sir Bloets Barmherzigkeit, und Zurücksetzungen und Demütigungen aller Art zu ertragen.
Oder der Hausherr würde noch heute nacht mit guten Nachrichten und einem Falken für Agnes zurückkehren, und sie alle würden glücklich leben bis ans Ende ihrer Tage. Bis auf Eliwys. Und Rosemund. Was sollte aus ihr werden?
Es ist bereits geschehen, dachte Kivrin. Das Urteil ist bereits gesprochen, und der Hausherr ist heimgekommen und hat das Verhältnis seiner Frau mit Gawyn aufgedeckt. Rosemund ist bereits Sir Bloet angetraut worden, und Agnes ist herangewachsen, hat geheiratet und ist im Kindbett gestorben, oder an Blutvergiftung, oder Cholera, oder Lungenentzündung.
Sie sind alle gestorben, dachte sie und brachte es nicht über sich, daran zu glauben. Sie sind alle seit mehr als siebenhundert Jahren tot.
»Schaut hin!« schrie Agnes. »Rosemund hat keinen Kopf!« Sie zeigte zu den verzerrten Schattenspielen, die das Feuer auf die Wände malte. Rosemunds Schatten, grotesk verlängert, endete bei den Schultern.
Einer der rothaarigen Jungen rannte hinüber zu Agnes. »Ich habe auch keinen Kopf!« sagte er und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Form des Schattens zu verändern.
»Du hast keinen Kopf, Rosemund«, rief Agnes fröhlich. »Du wirst sterben, bevor das Jahr um ist.«
»Sag nicht solche Dinge«, wies Eliwys sie zurecht. Alle merkten auf.
»Kivrin hat einen Kopf«, sagte Agnes. »Ich habe einen Kopf, aber die arme Rosemund hat keinen.«
Eliwys nahm Agnes bei beiden Armen. »Das sind nichts als törichte Spiele«, sagte sie. »Sag nicht solche Dinge.«
»Der Schatten…«,sagte Agnes, und es sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
»Setz dich zu Lady Katherine und sei still!« sagte Eliwys. Sie führte ihre Tochter zu Kivrin und stieß sie auf die Bank. »Du bist zu wild heute abend.«
Agnes hockte neben Kivrin auf der Bank und versuchte sich klar zu werden, ob sie weinen sollte oder nicht. Kivrin war mit ihrer Zählung der Glockenschläge durcheinander gekommen, und so zählte sie weiter, wo sie aufgehört hatte. Sechsundvierzig, siebenundvierzig…
»Ich will meine Glocke«, sagte Agnes und kletterte von der Bank.
»Nein, wir müssen still sitzen«, sagte Kivrin. Sie nahm Agnes auf den Schoß.
»Erzähl mir von Weihnachten.«
»Ich kann nicht, Agnes. Ich kann mich nicht erinnern.«
»Erinnerst du dich an nichts, was du mir erzählen kannst?«
Ich erinnere mich an alles, dachte
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